Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Psychoanalyse« (Freud: Der Moses des Michelangelo, in Gay: Der Moses des Michelangelo, S. 57) zeige. Warum diese Geheimniskrämerei?
Freud begeisterte sich für das, was der Künstler ästhetisch aus der legendären historischen Figur gemacht hatte. Der mit den Augen des Künstlers – und nicht des Historikers – betrachtete Moses verkörperte für ihn »Übermenschliches« ( Der Moses des Michelangelo, Bd. X, S. 198). Der Ausdruck ist wichtig. Was faszinierte den Psychoanalytiker? Es waren die Muskelkraft, die aus dem Marmor sprach, das imposante Format, das Potential titanischer Wut, der meisterliche Ausdruck der Affekte und die psychische Leistung, nämlich »das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat.« (ebd.) Was hatte es mit der Leidenschaft und dem Niederringen auf sich? Und welche Bestimmung war gemeint? Ging es hier um Moses oder um Freud selbst? Um das Niederringen
der inzestuösen Leidenschaft zugunsten der Bestimmung, also der Erfindung der Psychoanalyse?
Beschäftigen wir uns zunächst mit dem Übermenschlichen, das Freud zur Beschreibung der Mosesstatue verwendete. Man bedenke, dass er sich für das Verfassen der wenigen Seiten sehr viel Zeit genommen und jedes Wort sorgsam gewählt hatte. Erinnern wir uns an Massenpsychologie und Ich-Analyse, wo Freud den Stammesvater mit Nietzsches berühmter Figur in Beziehung setzte. Über den Vater schrieb er dort: »Zu Eingang der Menschheitsgeschichte war er der Übermensch, den Nietzsche erst von der Zukunft erwartete.« ( Die Masse und die Urhorde, Bd. XIII, S. 138) Sehen wir einmal über die unglaubliche Fehllektüre Nietzsches hinweg, die sich in diesem Satz zeigt, und nehmen wir stattdessen zur Kenntnis, dass für Freud Vater und Übermensch in einer Beziehung zueinander stehen und auch mit Moses verbunden sind. Könnte Moses also eine Darstellung des Vaters sein?
Das würde rechtfertigen, dass der dem Vater unterworfene Sohn, der Angst vor der Kastration und der väterlichen Strafe hat und besorgt ist, ihn durch das lange Umschleichen und Betrachten erzürnt zu haben, dreizehn Jahre voller Zweifel vergehen ließ, bevor er den Text veröffentlichte, noch dazu anonym; dann das theatralisch inszenierte Verschwinden des Entdeckers der Psychoanalyse im löchrigen, mottenzerfressenen Kostüm eines Unbekannten aus analytischen Kreisen – so lässt sich ein Vatermord natürlich gut vertagen! 1914 hatte sich Freud schon dreizehn Jahre mit dem Thema beschäftigt, doch erst in seinem Todesjahr 1939 wagte er, wozu er früher nicht in der Lage gewesen wäre: Er zerbrach die Mosesstatue. Von der 1901 an seine Frau verschickten Postkarte bis zur Veröffentlichung von Der Mann Moses und die monotheistische Religion 1939 verbrachte Freud fast vier Jahrzehnte im bedrohlichen Schatten der Mosesfigur.
Auch die Entstehungsgeschichte von Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist, man ahnt es, nicht ganz einfach. Genau
wie der Aufbau des Buchs, der von der Schwierigkeit zeugt, etwas zu schaffen, wenn man zugleich etwas zerstören will. Freud gibt im Text zu, nicht alle Spuren von dessen Entstehung verwischt zu haben. Zudem entstand das Buch zunächst im Wiener und dann im Londoner Büro. Offensichtlich ist, dass der Text eine Reaktion auf die Machtergreifung Hitlers 1933 darstellt: Freud fragte sich, wieso die Juden einen solchen Hass auf sich ziehen. Er hatte das Manuskript zwischendurch zur Seite gelegt, dann erneut daran gearbeitet, wieder pausiert und war einfach nicht damit zufrieden. Er zweifelte an den dort formulierten Thesen und an seiner Fähigkeit, diese oder andere Untersuchungen erfolgreich durchzuführen. Er hielt sich gar für unfähig, neue Ideen zu entwickeln, verschob die Veröffentlichung und überlegte, das Buch gar nicht herauszubringen, weil er massive Angriffe fürchtete und wusste, dass er sie aus Mangel an Beweisen nicht würde abwehren können. Seine Ankunft in London 1937 fiel mit dem Entschluss zusammen, das Buch doch noch zu beenden und zu veröffentlichen. Er stellte es als eine Art Fortsetzung von Totem und Tabu vor; es erschien 1939 kurz vor seinem Tod.
Mehrfach sprach Freud in Briefen von dem Buch als »historischem Roman« (Brief an Lou Andreas-Salomé, 6. Januar 1835, Freud/Salomé, Briefwechsel, S. 222), eine Formulierung, die als Pendant zum »wissenschaftlichen Mythos« in Totem und Tabu zu verstehen ist. Denn was ist ein historischer Roman anderes
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