Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
als ein neues Oxymoron? Der Roman setzt Vorstellungskraft und Fiktion voraus, und Freud beherrschte beides mühelos. Er schrieb sogar am 21. Februar 1937 an Arnold Zweig, er wolle »über Moses phantasieren« (Freud/Zweig, Briefwechsel, S. 133). Doch die Geschichtsschreibung bedarf des genauen Gegenteils, nämlich der Recherche, dem Auffinden von Beweisen für die vorgebrachten Thesen und der Suche nach Belegen in Archiven – die Vorstellungskraft hat hier nichts verloren. Ein »historischer Roman« ist also ein hybrides Konstrukt, in dem die Geschichte keine Existenzberechtigung mehr hat, sobald die Fantasie regiert.
Was für das Oxymoron »wissenschaftlicher Mythos« in Bezug auf die Urhorde galt, trifft auch auf den »historischen Roman« über den Ägypter Moses zu, der das jüdische Volk erfand und den Freud für die Inkarnation der Vaterfigur hielt. So ist verständlich, dass Freud zögerte und zweifelte, bevor er quasi die Hand gegen den Vater erhob und dann kurz vor dem eigenen Tod noch einmal alle Verbote überschritt – auch das der jüdischen Gemeinschaft, die in Europa dem Naziterror ausgesetzt war und den Text so auffasste, wie er gemeint war: als üblen Angriff. Paul-Laurent Assoun analysiert in seinem monumentalen Lexikon der psychoanalytischen Werke die Rezeption des Textes: »Von allen Werken Freuds wurde dieses am heftigsten kritisiert, wie die anonymen ›Briefe an den Herausgeber‹ zeigen, die aus Palästina, Kanada, den Vereinigten Staaten oder Südafrika stammen und zum Teil schon vor der Veröffentlichung verfasst wurden. Dem ungläubigen Juden Freud wurde vorgeworfen, die Zurückweisung grundlegender Wahrheiten der jüdischen Religion zu rechtfertigen und ›Goebbels und anderen wilden Tieren‹ eine weitere Waffe an die Hand zu geben. Freud musste sich in einem Brief als ›alter Irrer‹ beschimpfen lassen, der ›besser beraten gewesen wäre, wenn er das Zeitliche gesegnet hätte, ohne sich zu blamieren‹; außerdem wünschte man ihm, er möge seine letzten Tage in den Konzentrationslagern der ›deutschen Gangster‹ zubringen.« Freud wusste, dass er sich mit der Veröffentlichung des Buchs solchen Angriffen aussetzte. Wieso schnitt er dann noch selbst die Ruten zu, mit denen man ihn schlagen konnte?
Sein Text formulierte eine klare Frage: Worauf geht der jüdische Charakter ursprünglich zurück? Er hätte eine Antwort darauf im Reich der Ideen suchen können, doch Freud erforschte lieber das direkte Umfeld, nämlich seine Eltern. Seine Theorie des Judentums konnte die eigenen Eltern nicht aussparen, denn sein extremer Antiklerikalismus und Atheismus speisten sich aus den Erfahrungen, die er in seiner eigenen Familie gemacht hatte, die er als beispielhaft für den jüdischen Charakter nahm.
Glaubt man den übereinstimmenden Aussagen der Mitglieder seiner Familie, war Amalia die archetypische jüdische Mutter – sei es ein Klischee oder historisch belegbare Wahrheit. Sie sei originell, kapriziös und energiegeladen gewesen, habe einen eisernen Willen gehabt und sei in kleinen wie großen Dingen zu allem bereit gewesen, um ihre Ziele zu erreichen. Noch als Neunzigjährige sei sie kokett gewesen. Man hielt sie für egozentrisch, humorvoll und selbstironisch. Freuds Vater war nicht praktizierender Jude. Wir erinnern uns, dass er seinem ältesten Sohn eine Bibel schenkte, die er selbst von seinem Vater bekommen hatte. Er erklärte sie zum »Buch der Bücher«, das den Ausgangspunkt allen Wissens bilde.
Doch nach allem, was wir wissen, war das Judentum beim Vater stärker ausgeprägt als bei der Mutter. Die hebräische Bibel war für Freud möglicherweise eine ödipale Herausforderung: Der Vater hielt das Judentum für die Quelle der Wahrheit. Es stand für das Gesetz des Vaters, das in der identitätsstiftenden Sprache des jüdischen Volkes verfasst war. Freuds Großvater und Urgroßvater waren Rabbiner; unter seinen Vorfahren fand sich sogar einer der größten Talmudgelehrten Galiziens. Das Judentum war für Freud also nicht nur Theorie, sondern auch eine konkrete Familienangelegenheit – insbesondere der Familie väterlicherseits.
Welches Ziel verfolgte Freud mit seinem Moses-Buch? »Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt« ( Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Bd. XVI, S. 103). Besser kann man es nicht ausdrücken. Das Buch trat also an, den Vater der Juden zu töten und damit den Inbegriff aller Vatermorde
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