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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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man eine von Dädalus geschaffene Statue ansprach, gab diese – im Unterschied zu den Statuen im Metropolitan Museum of Arts in New York City – eine Antwort. Was Tony anging, so hatte seine Abneigung gegen das Schreiben andere, nicht weniger respektable Gründe: In Bay Ridge, Brooklyn, war er seinerzeit fast von der Schule geflogen.
    Aber irgendwo ist Schluss mit den Gemeinsamkeiten, andernfalls wäre es ja kaum möglich, einen Dialog zu eröffnen. Natürlich müssen wir, was Fat Tony angeht, mit einem gewissen Maß an Verblüffung rechnen, wenn er das erste Mal dem Mann gegenübersteht, der ihm von Nero als größter Philosoph aller Zeiten beschrieben wurde. Wir wissen, dass Sokrates mehr als unvorteilhaft aussah. Häufig wird sein Spitzbauch erwähnt, die dünnen Gliedmaßen, die hervorquellenden Augen, die stumpfe Nase. Alles in allem machte er einen abgerissenen Eindruck. Womöglich hatte er sogar Körpergeruch – es heißt, er habe sehr viel seltener gebadet als seine Begleiter. Man kann sich also vorstellen, wie Fat Tony schnaubend auf den Typen zeigt: »Also bitte, Nero, wollen Sie im Ernst von mir verlangen, dass ich mit … so einem rede?« Aber vielleicht wäre es auch ganz anders: Sokrates soll viel Ausstrahlung gehabt haben, Selbstvertrauen und eine geistige Gelassenheit, die bei manchen jungen Männern den Eindruck hervorrief, Sokrates sei geradezu schön gewesen.
    Ganz sicher konnte Nero damit rechnen, dass Fat Tony zunächst einmal nahe an Sokrates herantreten und sich eine Meinung zu seinem Gegenüber mittels olfaktorischer Eindrücke bilden würde – dabei ist sich Fat Tony, wie gesagt, seiner Vorgehensweise nicht einmal bewusst.
    Nehmen wir nun also an, Fat Tony sei von Sokrates gefragt worden, wie er Frömmigkeit definiere. Fat Tonys Antwort wäre wohl in Richtung »Verzieh dich« gegangen. Fat Tony wusste, dass Sokrates nicht nur kein Geld dafür verlangte, dass man sich mit ihm unterhalten durfte, sondern im Gegenteil sogar bereit war, seinerseits für die Konversation zu bezahlen; und mit jemandem, der Geld dafür hinlegte, dass man sich mit ihm stritt, redete Fat Tony nicht.
    Fat Tonys große Stärke liegt andererseits darin, unter keinen Umständen zuzulassen, dass in einem Gespräch der andere den Rahmen vorgibt. Er hatte Nero gelehrt, dass in jeder Frage die Antwort bereits angelegt ist – man sollte also auf eine Frage, die einem sinnlos erscheint, nie eine direkte Antwort geben.
    FAT TONY: Sie verlangen von mir, zu definieren, worin sich der Fromme und der Nicht-Fromme unterscheiden. Muss ich tatsächlich in der Lage sein, Ihnen das zu sagen, um fähig zu sein, fromm zu handeln?
    SOKRATES: Wie können Sie ein Wort wie ›Frömmigkeit‹ verwenden, ohne zu wissen, was es bedeutet, während Sie vorgeben, seine Bedeutung zu kennen?
    FAT TONY: Muss ich wirklich dazu in der Lage sein, Ihnen in platt-barbarischem, nicht griechischem Englisch, oder auch in reinstem Griechisch, zu sagen, was es bedeutet, um zu beweisen, dass ich weiß und verstehe, was es bedeutet? Ich kann es nicht mit Worten sagen, trotzdem weiß ich, was es ist.
    Zweifellos würde Fat Tony seinem Gesprächspartner Sokrates von Athen auch weiterhin seine eigene Richtung vorgeben, indem er es nun übernahm, die Fragen zu formulieren:
    FAT TONY: Sagen Sie mir eines, alter Mann. Muss ein Kind Muttermilch definieren können, um zu verstehen, dass es sie trinken muss?
    SOKRATES: Nein, das muss es nicht.
    FAT TONY (der sich derselben Wiederholungsmuster bedient wie Sokrates in den Dialogen Platons): Und, mein lieber Sokrates, muss ein Hund definieren, was ein Herrchen ist, um ihm treu zu sein?«
    SOKRATES (etwas verwirrt aufgrund des Umstands, dass er derjenige ist, der gefragt wird): Ein Hund hat … Instinkte. Er denkt nicht über sein Leben nach. Er stellt sich dazu keine Fragen. Wir sind keine Hunde.
    FAT TONY: Ganz richtig, mein lieber Sokrates, bemerken Sie, dass ein Hund Instinkte hat und wir keine Hunde sind. Aber sind wir Menschen denn so fundamental anders und so gänzlich frei von Instinkten, die es uns ermöglichen, Dinge zu tun, von denen wir keine Ahnung haben? Müssen wir unser Leben auf das begrenzen, was uns als Antwort in Proto-Brooklyn-Englisch vorgegeben wird?
    Ohne die Antwort von Sokrates abzuwarten (nur Dummköpfe warten Antworten ab; Fragen sind nicht dazu da, um beantwortet zu werden):
    FAT TONY: Außerdem, mein lieber Sokrates, warum sind Sie der Meinung, dass wir die Bedeutung der Dinge festlegen

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