Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
unbestritten zum einflussreichsten Philosophen der Geschichte wurde: des Atheners Sokrates, des ersten Philosophen im modernen Sinn des Wortes. Sokrates hinterließ keine eigenen Schriften, wir kennen ihn fast ausschließlich aus denen von Platon und Xenophon. Und genau wie Fat Tony als selbsternannten Biographen meine Wenigkeit hat, der ich meine durchaus eigenen Absichten verfolge, was unvermeidlich Verzerrungen von Fat Tonys wahrem Charakter zur Folge hat und die eigennützige Darstellung gewisser Ideen, die nicht auf Fat Tony, sondern besagten Autor zurückgehen, so bin ich auch überzeugt davon, dass der Sokrates des Platon ein platonischerer Charakter ist als der tatsächliche Sokrates. 56
In Euthyphron , einem der platonischen Dialoge, wartete Sokrates vor dem Gerichtsgebäude auf den Beginn des Prozesses, in dem er später zum Tod verurteilt werden sollte. Euthyphron, nach dem der Dialog benannt ist, war ein Wahrsager und Experte in religiösen Fragen; er eröffnete das Gespräch mit Sokrates. Sokrates erklärte zunächst, für die »Aktivitäten«, die das Gericht ihm zur Last legte (verderblicher Einfluss auf die Jugend und Einführung neuer Götter zu Lasten der älteren), verlange er nicht nur kein Geld, er sei sogar durchaus bereit, seinerseits die Leute zu bezahlen, die ihm zuhörten.
Es stellte sich dann heraus, dass Euthyphron unterwegs zum Gericht war, um seinen Vater wegen Totschlags zu verklagen – kein schlechter Ausgangspunkt für ein Gespräch. Sokrates begann also mit der Frage, wie Euthyphron seine religiösen Pflichten mit der Absicht vereinbaren konnte, seinen Vater vor Gericht des Totschlags zu beschuldigen.
Sokrates’ Technik sah folgendermaßen aus: Er brachte seinen Gesprächspartner, der von einer bestimmten These ausging, dazu, einer Reihe von Feststellungen zuzustimmen. Anschließend zeigte er seinem Gegenüber, dass die Feststellungen, denen er soeben zugestimmt hatte, mit der Anfangsthese nicht vereinbar waren, was dann den Schluss erlaubte, dass der andere keine Ahnung hatte, wovon er eigentlich sprach. Diese Taktik benutzte Sokrates überwiegend, um den Leuten zu zeigen, wie unscharf ihr Denken war, wie wenig sie letztlich von den Vorstellungen wussten, mit denen sie tagtäglich umgingen – und wie unentbehrlich daher die Philosophie war, die diese Vorstellungen aufhellte.
Zu Beginn des Euthyphron-Dialogs fängt Sokrates seinen Gesprächspartner mit dem Begriff der »Frömmigkeit« ein: Euthyphron hatte die Verfolgung seines Vaters als frommen Akt bezeichnet und so den Eindruck vermittelt, er habe seinen Vater aus Gründen der Frömmigkeit verfolgt. Allerdings konnte er keine Definition von Frömmigkeit geben, die Sokrates zufriedengestellt hätte. Sokrates ließ dem armen Kerl, der nicht imstande war, eine Definition von Frömmigkeit zu liefern, keine Ruhe. Der Dialog setzte sich in weiteren Definitionen fort (Was ist »moralische Rechtschaffenheit«?), bis Euthyphron eine höfliche Ausrede einfiel und er sich aus dem Staub machen konnte. Der Dialog hörte unvermittelt auf, allerdings hat man als Leser den Eindruck, er hätte genauso gut bis heute, fünfundzwanzig Jahrhunderte später, fortgesetzt werden können, ohne dass man einen Schritt weitergekommen wäre.
Steigen wir also einfach wieder ein.
Fat Tony versus Sokrates
Wie hätte Fat Tony das Kreuzverhör des unermüdlichen Atheners gehandhabt? Der Leser kennt ja unseren bodenständigen Helden schon, lassen wir also als Gedankenexperiment vor unserem geistigen Auge einen ähnlichen Dialog zwischen Fat Tony und Sokrates erstehen, korrekt übersetzt, versteht sich.
Zunächst einmal fallen zwischen den beiden Männern deutliche Ähnlichkeiten auf. Beide hatten Freizeit im Übermaß, die bei Fat Tony allerdings der Lohn produktiver Erkenntnisse war. Beide diskutieren gern, und für beide ist eine lebhafte Diskussion (und nicht die Passivität vor dem Fernsehgerät oder im Konzertsaal) eine Hauptquelle der Unterhaltung. Beide sind dem Schreiben abgeneigt: Sokrates, weil er den definitiven, unveränderlichen Charakter ablehnte, der mit dem geschriebenen Wort notwendigerweise verbunden ist. Für ihn waren Antworten nie etwas Endgültiges und sollten daher auch nicht festgeschrieben werden. Nichts sollte in Stein gehauen werden, nicht einmal im wörtlichen Sinn: Im Dialog Euthyphron brüstet sich Sokrates damit, von dem Bildhauer Dädalus abzustammen, dessen Statuen, sobald sie fertiggestellt waren, lebendig wurden. Wenn
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