Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
müssen?
SOKRATES: Mein lieber Mega-Tony, wenn wir reden, müssen wir wissen, wovon wir reden. Die gesamte Philosophie gründet auf unserer Fähigkeit zu reflektieren und zu verstehen, was wir tun – unser Leben in Frage zu stellen. Ein unhinterfragtes Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden.
FAT TONY: Das Problem, mein armer alter Grieche, ist, dass Sie all die Dinge beseitigen, die wir wissen, aber nicht ausdrücken können. Wenn Sie jemanden, der auf einem Fahrrad sitzt und ausgezeichnet fahren kann, bitten würden, die Theorie hinter seiner Tätigkeit zu erklären, würde er herunterfallen. Indem Sie die Leute schikanieren und ausfragen, bringen Sie sie durcheinander und verletzen sie.
Dann, mit einem gönnerhaften Schmunzeln, sehr bedächtig:
FAT TONY: Mein lieber Sokrates … ist Ihnen klar, warum Sie zum Tod verurteilt werden? Das geschieht, weil Sie die Leute so weit bringen, dass sie sich dumm vorkommen, wenn sie Gewohnheiten, Instinkten und Traditionen folgen. Gelegentlich haben Sie ja vielleicht recht. Aber Sie bringen die Leute dort durcheinander, wo sie ausgezeichnet zurechtkamen, ohne dass es irgendwelche Probleme gab. Sie zerstören die Illusionen, die die Menschen in Bezug auf sich selbst haben. Sie berauben die Dinge, die wir nicht verstehen, der Freude des Nichtwissens. Und Sie haben keine Antwort; Sie haben nichts, was Sie den Menschen als Antwort anbieten könnten.
Das Primat definitorischen Wissens
Fat Tony zielt hier auf das innerste Wesen der Philosophie. Sokrates stellte tatsächlich als Erster die Hauptfragen dessen, was sich dann in der Folge bis heute als Philosophie entfaltete: »Was ist Existenz?«, »Was ist Moral?«, »Was ist ein Beweis?«, »Was ist Wissenschaft?«, »Was ist dieses?«, »Was ist jenes?« Die Frage, die in Euthyphron gestellt wird, durchdringt sämtliche von Platon niedergeschriebenen Dialoge. Sokrates suchte rastlos nach Definitionen der eigentlichen Natur des in Rede stehenden Gegenstands; Beschreibungen der Eigenschaften, aufgrund derer wir sie erkennen können, spielten keine so große Rolle.
Sokrates ging sogar so weit, Dichter zu befragen, und berichtete dann, dass sie über ihre eigenen Werke auch nicht mehr wüssten als ihr Publikum. In Platons Darstellung von der Verurteilung des Sokrates, der Apologie , berichtete Sokrates, wie er vergeblich Dichter ins Kreuzverhör nahm: »Ich legte ihnen einige der kunstvollsten Passagen aus ihren Schriften vor und fragte sie nach deren Bedeutung. Ich schäme mich fast, es zu erwähnen, aber ich muss es doch tun: In diesem Raum befindet sich kaum ein Mensch, der über ihre Dichtung nicht besser Auskunft geben könnte als sie selbst.«
Und diese Priorität definitorischen Wissens führte zu Platons These, dass man überhaupt nichts wissen kann, wenn man nicht die Formen kennt, die das sind, was Definitionen umreißen. Wenn wir Frömmigkeit nicht definieren können, indem wir von Einzelheiten ausgehen, dann müssen wir mit den Universalien beginnen, von denen diese Einzelheiten ausströmen. Mit anderen Worten: Wenn man keine Karte zu einem bestimmten Gebiet bekommen kann, erstelle man sich ein Gebiet aufgrund der Karte.
Zu Sokrates’ Verteidigung sei gesagt, dass seine Fragen immerhin zu einem wichtigen Ergebnis führten: Wenn sie ihm schon nicht erlaubten, zu definieren, was ein Ding war, dann war es mit ihrer Hilfe immerhin möglich zu wissen, was ein Ding nicht war.
Die Verwechslung des Nichtverständlichen mit dem Unverständigen
Fat Tony hatte natürlich viele Vorläufer. Von vielen dieser Vorläufer wird man – aufgrund des Primats der Philosophie und der Art und Weise, wie sie von Christentum und Islam in den Alltag integriert wurde – nie etwas erfahren. Unter »Philosophie« verstehe ich theoretisches, begriffliches Wissen, sämtliches Wissen, die Dinge, die man aufschreiben kann. Denn bis vor kurzem bezog sich der Terminus vor allem auf das, was wir heute als Naturwissenschaft bezeichnen – auf die Naturphilosophie, den Versuch, die Natur zu rationalisieren, ihre Logik zu durchdringen.
Ein origineller moderner Angriff auf diesen Punkt stammt von dem jungen Friedrich Nietzsche, wenn auch verpackt in literarische Höhenflüge über Optimismus und Pessimismus und vermischt mit Halluzinationen über das Wesen des »Abendlandes«, eines »typischen Hellenen« und die »deutsche Seele«. Der junge Nietzsche schrieb sein erstes Buch, Die Geburt der Tragödie , als er nur wenig älter war als zwanzig
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