Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
»Schicksal« nennt und mit der Wechselwirkung von Gründen gleichsetzt) und schreibt ihm drei Manifestationen zu: Er sieht in ihm erstens den »Liber Pater«, die bacchische Macht (Dionysos bei Nietzsche), der die für die Fortsetzung des Lebens notwendige befruchtende Energie spendet; zweitens Herkules, die Verkörperung der Stärke; und drittens Merkur, der (für Senecas Zeitgenossen) Handwerk, Wissenschaft und Vernunft verkörperte (bei Nietzsche Apollon). Seneca bereichert die Dichotomie Nietzsches um die dritte Dimension der Stärke.
Frühere Attacken auf die »Philosophie« im Sinne von rationalistischem Wissen in der Tradition eines Platon und Aristoteles stammen, wie ich bereits erwähnte, von einer Reihe von Leuten, die im Corpus der überlieferten Texte nicht unbedingt auftauchen; sie sind weitgehend vergessen oder werden in den Texten nur selten erwähnt. Warum wurden sie vergessen? Weil strukturierte Gelehrsamkeit von der Verknappung und Vereinfachung durch naiven Rationalismus lebt, die – im Unterschied zur reichen Textur der Empirie – leicht zu lehren ist. Und wie ich bereits erwähnte, hatten diejenigen, die die akademische Bildung angriffen, kaum ein Forum (ein Umstand, der, wie ich zeigen werde, besonders in der Geschichte der Medizin eine große Rolle spielt).
Ein im Vergleich mit Nietzsche noch gebildeterer und wesentlich aufgeschlossenerer Altphilologe war Ernest Renan, ein französischer Denker des 19. Jahrhunderts. Er beherrschte außer dem üblichen Griechisch und Latein auch noch Hebräisch, Aramäisch (Syrisch) und Arabisch. In seiner Kritik an Averroës formulierte er die berühmte Idee, dass Logik per definitionem Nuancen ausschließen muss; da aber Wahrheit ausschließlich in den Nuancen zu finden ist, hat es von vornherein keinen Sinn, »Wahrheit in der Moralphilosophie oder in der Politikwissenschaft zu suchen«.
Tradition
Fat Tony bemerkte richtig, dass Sokrates zum Tod verurteilt wurde, weil er etwas zerstörte, das nach Auffassung der Athener Bürgerschaft gut funktioniert hatte. Die Dinge sind zu kompliziert, um in Worten ausgedrückt zu werden; tut man es doch, kann das tödlich enden. Oder aber die Leute konzentrieren sich wie bei der Sache mit dem Grünholz womöglich auf das Richtige, sind aber außerstande, das Problem intellektuell zu lösen.
Tod und Märtyrertum sind gut für die Werbung, vor allem, wenn der Verurteilte sein Schicksal hinnimmt, ohne sich in seinen Überzeugungen beirren zu lassen. Ein Held ist jemand mit unerschütterlicher intellektueller Zuversicht und Selbstvertrauen, für den der Tod nur eine untergeordnete Rolle spielt. In den meisten Darstellungen ist Sokrates aufgrund seines Todes und seiner Bereitschaft, den Tod eines Philosophen zu sterben, ein Heros der Philosophie. Allerdings hatte er auch einige bedeutende Kritiker, die überzeugt waren, Sokrates habe die Fundamente der Gesellschaft – die Heuristiken, die uns von unseren Vorfahren überliefert wurden – zerstört. Denn möglicherweise haben wir einfach nicht die nötige Reife, sie in Frage zu stellen.
Cato der Ältere, dem wir im zweiten Kapitel schon begegnet sind, war gegen Sokrates hochallergisch. Cato besaß die gleiche nüchtern-pragmatische Geisteshaltung wie Fat Tony, allerdings war seine bürgerliche Gesinnung sehr viel ausgeprägter, und er hatte ein hohes Sendungsbewusstsein, tiefen Respekt vor der Tradition und ein ausgeprägtes Gespür für moralische Rechtschaffenheit. Außerdem war er gegen Einflüsse aus Griechenland allergisch, was in seiner Aversion gegen Philosophen und Ärzte zum Ausdruck kommt – ich werde in späteren Kapiteln noch zeigen, wie bemerkenswert modern die Gründe für seine Allergie waren. Catos Engagement für die Demokratie führte dazu, dass er sowohl an Freiheit als auch an überkommene Regeln glaubte, kombiniert mit einer ausgeprägten Furcht vor Tyrannei. Plutarch zitiert Cato folgendermaßen: »Sokrates war ein gewaltiger Schwätzer, der sich nach Kräften bemühte, seine Vaterstadt zu tyrannisieren, indem er die alten Sitten aufzulösen und die Bürger zu Ansichten zu verführen suchte, die gegen die Gesetze gerichtet waren.«
Damit zeichnet sich deutlich ab, welchen Stellenwert naiver Rationalismus in der Antike hatte: Indem er das Denken verarmt, anstatt es zu erweitern, führt er zu Fragilität. Die Menschen damals wussten, dass Unvollständigkeit – Halbwissen – immer gefährlich ist.
Auch später gab es noch viele, die diese andere
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