Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Jahre. Sein Hauptgegner war Sokrates, den er den »Mystagogen der Wissenschaft« nannte, da er »das Dasein als begreiflich erscheinen« machte. Dieser brillante Abschnitt stellt dar, was ich die Dummkopf-Rationalisten-Täuschung nenne:
Vielleicht – so musste er [Sokrates] sich fragen – ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige? Vielleicht gibt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist?
»Das mir Nichtverständliche ist nicht auch sofort das Unverständige« ist möglicherweise der großartigste Satz des gesamten 19. Jahrhunderts – ich habe bereits eine Variante davon im Prolog angeführt, in der Definition des Fragilisten, der das, was er nicht versteht, für Unsinn hält.
Nietzsche ist außerdem allergisch gegen die sokratische Version von Wahrheit, die ganz überwiegend von der Absicht zu verstehen geprägt ist, denn Sokrates zufolge handelt man nicht bewusst böse – ein Argument, das offenbar für die Aufklärung eine Rolle spielte; Denker wie Condorcet sahen in der Wahrheit die einzige und hinreichende Quelle des Guten.
Es war genau dieses Argument, gegen das Nietzsche so vehemente Einwände hatte: Wissen ist das Allheilmittel; Irrtum ist böse; Wissenschaft ist also ein durch und durch optimistisches Unternehmen. Die Herrschaft des wissenschaftlichen Optimismus, der Gebrauch des Denkens und Wissens im Dienst von Utopia irritierte Nietzsche. Die Optimismus-versus-Pessimismus-Debatte, die immer wieder angeführt wird, wenn es um Nietzsche geht, ist nicht so wichtig, denn der so genannte Nietzsche’sche Pessimismus lenkt von dem eigentlich zentralen Punkt ab: Es war der Glaube an Wissen als etwas an sich Gutes , was er in Frage stellte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich das zentrale Problem begriff, das Nietzsche in der Geburt der Tragödie anspricht. Er sieht zwei Kräfte am Werk, das Apollinische und das Dionysische. Die eine Kraft ist maßvoll, ausbalanciert, rational, durch und durch Vernunft und Selbstbeherrschung; die andere ist dunkel, intuitiv, wild, ungezähmt, schwer zu verstehen, und sie steigt auf aus den innersten Schichten des Selbst. Die antike griechische Kultur beruhte ursprünglich auf einem Gleichgewicht der beiden Kräfte, bis der Einfluss von Sokrates auf Euripides den Anteil des Apollinischen vergrößerte und die Macht des Dionysischen störte, was einen zügellosen Aufstieg des Rationalismus zur Folge hatte. Der Vorgang ist mit der Störung des vorgegebenen chemischen Gleichgewichts in Ihrem Körper durch die Injektion von Hormonen vergleichbar. Das Apollinische ohne das Dionysische ist, wie die Chinesen sagen würden, Yang ohne Yin.
Nietzsches denkerische Kraft fasziniert mich bis heute: Er kam der Antifragilität auf die Spur. Während viele fälschlicherweise die Vorstellung von der »schöpferischen Zerstörung« dem Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter zuschreiben (als ob eine derart brillante und tiefe Einsicht von einem Wirtschaftswissenschaftler kommen könnte!), 57 oder die Kundigeren, wie ich gezeigt habe, Karl Marx als Urheber benennen, war es eigentlich Nietzsche, der den Begriff als Erster im Zusammenhang mit Dionysos verwendete, von dem er sagt, er sei »auf schöpferische Weise zerstörerisch« und »auf zerstörerische Weise schöpferisch«. Es war in der Tat Nietzsche, der – auf seine Weise – herausfand, was Antifragilität ist.
Ich habe Nietzsches Geburt der Tragödie zweimal gelesen, das erste Mal als Kind, damals verstand ich noch nicht sehr viel. Das zweite Mal las ich den Text, nachdem ich Jahrzehnte damit zugebracht hatte, über Zufälligkeit nachzudenken, und damals ging mir auf, dass Nietzsche etwas verstanden hatte, was sich allerdings in seinem Werk nicht ausformuliert findet: dass nämlich die Zunahme des Wissens – überhaupt Wachstum auf jedem Gebiet – ohne das Dionysische nicht möglich ist. Das Dionysische offenbart die Dinge, die wir an einem bestimmten Punkt auswählen können, vorausgesetzt, wir haben Optionalität. Mit anderen Worten, das Dionysische kann die Quelle stochastischen Tüftelns sein, und das Apollinische ist Teil der Rationalität im Selektionsprozess.
Lassen Sie mich noch den Big Boss Seneca mit ins Bild bringen. Auch er arbeitete mit dionysischen und apollinischen Charakteristika. Es hat den Anschein, als präsentiere er in einer seiner Schriften eine umfassendere Version unserer menschlichen Zielsetzungen. Er spricht über einen Gott (den er auch
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