Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Jüngere Menschen sind gegen Temperaturunterschiede bis zu einem bestimmten Punkt antifragil, sie profitieren von einer gewissen Variabilität, allerdings geht diese Antifragilität mit zunehmendem Alter verloren (oder auch, weil sie nicht genutzt wird – ich vermute, dass zu komfortable Temperaturverhältnisse Alterungsprozesse begünstigen und die Menschen fragil machen).
68 Es geht der Großmutter bei 21 Grad besser als bei einem Durchschnitt von 21 Grad, wenn in der ersten Stunde -18 Grad herrschen und in der zweiten 60 Grad. Je stärker die Streuung um den Durchschnitt herum, desto schädlicher für sie. Schauen wir uns diesen nicht unmittelbar einleuchtenden Effekt in den Ausdrücken x und Funktion von x, f(x) , an. Das Wohlbefinden der Großmutter sei f(x) , x die Temperatur. Wenn wir eine Funktion der durchschnittlichen Tem peratur nehmen, f {(-18 + 60)/2} , geht es der Großmutter blendend. Bei {f(-18) + f(60)}/2 hingegen haben wir eine tote Großmutter bei f(-20) und eine tote Großmutter bei f(60) – also einen »Durchschnitt« von einer toten Großmutter. Das erklärt die Aussage, dass die Eigenschaften von f(x) und diejenigen von x sich auseinanderentwickeln, wenn f(x) nichtlinear ist. Der Durchschnitt von f(x) unterscheidet sich von f(Durchschnitt von x) .
Buch VI
Via Negativa
Wir erinnern uns: Für die Farbe Blau hatten wir lange Zeit keine Bezeichnung, kamen aber auch ganz gut ohne zurecht – einen Großteil unserer Geschichte waren wir zwar nicht biologisch, aber kulturell farbenblind. Und vor der Abfassung des ersten Kapitels hatten wir keinen Begriff für Antifragilität, doch alle möglichen Systeme haben jenseits menschlicher Einmischung gemäß den Prinzipien der Antifragilität funktioniert. Es gibt viele Dinge ohne Wörter, Angelegenheiten, die wir kennen und mit denen wir interagieren, die wir aber nicht direkt beschreiben, nicht in menschliche Sprache fassen können oder in die engen Begriffe, die uns zur Verfügung stehen. Fast alles in unserer Umgebung, das irgendwie von Bedeutung ist, ist sprachlich schwer zu fassen – man kann sogar sagen, je mächtiger etwas ist, desto unbeholfener ist unser sprachlicher Zugriff.
Aber auch wenn wir nicht ausdrücken können, was genau etwas ist, können wir doch darüber eine Aussage treffen, was es nicht ist – also einen indirekten anstelle eines direkten Ausdrucks verwenden. Das »Apophatische« (vom griechischen apophasis – »Nein« sagen oder etwas nennen, ohne es zu nennen) zielt auf das, was in Worten nicht direkt ausgedrückt werden kann. Diese theologische Vorgehensweise ging aus dem Bestreben hervor, eine direkte Beschreibung zu vermeiden, indem man sich stattdessen auf die negative Beschreibung verlegte – im Lateinischen Via Negativa , den negativen Weg, nach theologischen Traditionen, die vor allem in der östlichen, orthodoxen Kirche verankert waren. Die Via Negativa versucht nicht auszudrücken, was Gott ist – das überlässt sie der primitiven Sorte zeitgenössischer wissenschaftsgläubiger Denker und Philosophaster. Sie zählt vielmehr auf, was Gott nicht ist, ihr Vorgehen ist also eliminativ. Diese Vorgehensweise wird meistens mit dem mystischen Theologen Pseudo-Dionysius Areopagita assoziiert. Pseudo-Dionysius Areopagita war ein obskurer Denker aus dem Vorderen Orient, der wirkmächtige mystische Abhandlungen schrieb und lange mit Dionysos dem Areopagiten verwechselt wurde, einem Richter in Athen, der durch die Predigten des Apostels Paulus bekehrt wurde (daher auch der Namenszusatz »Pseudo«).
Die Denker, die sich an Platons Philosophie orientieren, werden als Neuplatoniker bezeichnet; sie befassten sich hauptsächlich mit den platonischen Formen, jenen abstrakten Objekten mit eigener, deutlich abgehobener Existenzform. Pseudo-Dionysius war ein Schüler des Neuplatonikers Proklos (dieser war seinerseits Schüler von Syrianus, einem weiteren syrischen Neuplatoniker). Von Proklos wird berichtet, er habe gern darauf hingewiesen, dass Statuen dadurch entstehen, dass man etwas wegnimmt. Mir begegnete häufig im Zusammenhang mit einer apokryphen Anekdote eine aktuellere Version dieser Idee: Michelangelo wurde vom Papst gefragt, worin das Geheimnis seines Genies bestehe; vor allem wollte der Papst wissen, wie Michelangelo seine David-Statue schuf, die allgemein als Krönung seiner Kunst angesehen wurde. Michelangelo antwortete: »Ganz einfach. Ich nehme eben alles weg, was nicht David ist.«
Der Leser wird die Logik hinter
Weitere Kostenlose Bücher