Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
hat, ewig zu leben. Wenn ich übrigens vor die Aufgabe gestellt wäre, mein Anti-Ich zu finden, also diejenige Person auf diesem Planeten, die in ihren Vorstellungen und ihrem Lebensstil mir diametral entgegengesetzt ist, dann wäre es dieser besagte Ray Kurzweil. Das liegt nicht nur an seiner Neomanie. Während ich vorschlage, schädliche Elemente aus der Ernährung (und dem Leben) der Menschen zu entfernen, geht er genau umgekehrt, also additiv vor, indem er beispielsweise empfiehlt, an die zweihundert Pillen täglich zu schlucken. Dieses ganze Streben nach Unsterblichkeit erfüllt mich mit tiefer moralischer Abscheu.
Es ist derselbe tiefe innere Ekel, den ich empfinde, wenn ich einen reichen 82-jährigen Mann sehe, der sich mit blutjungen Geliebten (häufig aus Russland oder der Ukraine) umgibt. Ich bin nicht auf der Welt, um als krankes Tier ewig zu leben. Man erinnere sich daran, dass die Antifragilität eines Systems aus der Endlichkeit seiner Bestandteile resultiert – und ich bin Teil einer größeren Population, der so genannten Menschheit. Ich bin auf der Welt, um einen heroischen Tod zum Wohl der Allgemeinheit zu sterben, um Nachwuchs zu produzieren (und ihn auf das Leben vorzubereiten und für ihn zu sorgen) oder schlussendlich Bücher. Meine Information, also meine Gene, das Antifragile in mir, sollte nach Unsterblichkeit streben, nicht aber ich.
Ich werde Goodbye sagen, ein schönes Begräbnis in St. Sergius (Mar Sarkis) in Amioun haben und dann, wie die Franzosen sagen, place aux autres – Platz für andere machen.
83 Zwar wird das Thema der bedingten Lebenserwartung kontrovers diskutiert, aber die Zahlen sprechen für sich. Ein extremer Vertreter der einen Seite, Richard Lewontin, arbeitet mit dem äußerst niedrigen Schätzwert, dass »in den letzten 50 Jahren der Lebenserwartung einer Person, die 60 Jahre alt ist, lediglich vier Monate hinzugefügt wurden«. Daten aus den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zeigen ein paar Jahre mehr (wobei man allerdings nicht sicher ausmachen kann, wie viel davon der Entwicklung der Medizin und wie viel der Verbesserung der Lebensbedingungen und der sozialen Umgangsformen insgesamt zuzuschreiben ist). Immerhin zeigen auch die Daten der CDC, dass die Lebenserwartung eines 20-Jährigen von 42,79 (weiteren Jahren) von 1900 bis 1902 auf lediglich 51,2 in den Jahren 1949 bis 1951 und 58,2 im Jahr 2002 anstieg.
84 Eine technische Anmerkung: In der so genannten Bayes’schen Analyse (der bedingten Wahrscheinlichkeit) entspräche das der Betrachtung von A unter der Bedingung von B statt B unter der Bedingung von A.
85 Ein bezeichnendes Beispiel für das Fehlen eines empirischen Verständnisses von »Beweis«: In einem Artikel im New York Times Magazine entschuldigte sich ein Arzt, der berichtete, er habe wegen der möglicherweise schädlichen Nebenwirkungen aufgehört, Zucker zu essen, dafür, dass er so handle, ohne dass »eindeutige Beweise« vorlägen. Wie es um das Erfahrungswissen einer Person bestellt ist, lässt sich am besten dadurch herausfinden, dass man feststellt, wo sie die Beweislast platziert.
86 Was ich bewusst umgehen möchte, ist das Thema des Placeboeffekts; mir geht es um Nichtlinearitäten, und dieses Thema hat damit nichts zu tun.
87 Die einen sagen, wir brauchen mehr Fett als Kohlehydrate; andere behaupten das Gegenteil (hinsichtlich des Proteins sind sich alle einig, wobei nur wenige wissen, dass wir unsere Proteinaufnahme zufällig vornehmen müssen). Beide Seiten sprechen sich für eine planmäßige, nicht zufällige Zusammensetzung der Nahrung aus und beachten nicht, dass es bei Abfolge und Zusammensetzung auf Nichtlinearität ankommt.
88 Die prinzipielle Schwachstelle des Überflusses besteht in Gewöhnung und Ermattung (Biologen sprechen von einer Abstumpfung der Rezeptoren).
Buch VII
Die Ethik von Fragilität
und Antifragilität
Und nun zur Ethik. In opaken Umgebungen und in der neu entdeckten Komplexität der Welt ist es möglich, dass Menschen Risiken verstecken und damit andere schädigen können, ohne dass das Gesetz dazu in der Lage wäre, sie dingfest zu machen. Die Folgen von Iatrogenik können sich verzögert einstellen und unsichtbar sein. Es ist also nicht einfach, kausale Zusammenhänge zu sehen und zu verstehen, was geschieht.
Angesichts dieser epistemischen Grenzen ist der einzige Faktor, mit dem sich Fragilität abmildern lässt, die Bereitschaft, seine eigene Haut aufs Spiel zu setzen. Hammurapis
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