Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
drastische Ausprägung des folgenden Problems denkbar: Nehmen wir an, Mr. John Smith jr., JD, arbeitet als Lobbyist für die Tabakindustrie in Washington, D. C. – für eine Industrie, die, wie allgemein bekannt, davon lebt, dass sie um des Profits willen Menschen umbringt (wir haben, als wir von der Macht der Subtraktion sprachen, gesehen: Wenn die Tabakindustrie, etwa durch ein allgemeines Verbot von Zigaretten, abgeschafft würde, dann würde das, was die Medizin noch zu tun hätte, auf eine Fußnote zusammenschrumpfen). Fragen Sie unter seinen Verwandten (oder Freunden) herum, wie sie diese Tatsache aushalten können, wie sie es schaffen, ihn nicht auszugrenzen oder ihn so penetrant zu drangsalieren, bis er in Tränen ausbricht, etwa indem sie ihn beim nächsten Familienbegräbnis wie Luft behandeln. Die Antwort wird sehr wahrscheinlich lauten: »Von irgendwas muss man ja leben« – sie schließen es also wohl nicht aus, dass sie eines Tages in dieselbe Situation kommen könnten.
Wir müssen (mit derselben Logik wie in der Diskussion des Flugunterrichts für Vögel) untersuchen, in welcher Richtung sich der Pfeil bewegt:
Moral (und Überzeugungen) ➝ Beruf
oder
Beruf ➝ Moral (und Überzeugungen)
Im Vorfeld von Fat Tonys Unterredung mit Sokrates war Nero gespannt, wie die erste Minute der Begegnung verlaufen würde. Immerhin lag zwischen den Gesprächspartnern ein zeitlicher Abstand von etwa fünfundzwanzig Jahrhunderten. Es ist nicht einfach, die Bestandteile unserer physischen Umgebung auszumachen, die Sokrates am meisten überraschen würden. Irgendwann stellte Fat Tony Nero diese Frage – er hatte einen gewissen widerwilligen Respekt vor Neros historischem Wissen. Nero vermutete: »Sehr wahrscheinlich wäre es die Abwesenheit von Sklaven.«
»Die Menschen damals haben ihre kleinen alltäglichen Hausarbeiten nie selbst verrichtet. Ich kann mir vorstellen, wie Sokrates mit seiner jämmerlichen Figur – der dicke Bauch, die spillerigen Beine – daherkommt und sich fragt: Opou oi douloi? «
Fat Tony unterbrach ihn ungeduldig: »Ach, Neeroh Toolip, es gibt doch immer noch mehr als genug Sklaven. Sie geben sich häufig dadurch zu erkennen, dass sie dieses komplizierte Ding namens Krawatte um den Hals haben.«
Nero: »Signore Ingeniere Tony, einige dieser Krawattenträger sind wahnsinnig reich, reicher noch als Sie.«
Tony: »Nero, Sie sind ein Dummkopf. Lassen Sie sich doch von Geld nicht blenden. Das sind bloß Zahlen. Sich selbst zu gehören ist eine geistige Verfassung.«
Reichtum ohne Unabhängigkeit
Es gibt ein Phänomen, den so genannten Tretmühleneffekt, ähnlich der Neomanie: Sie müssen mehr und immer mehr tun, um am selben Ort zu bleiben. Habgier ist antifragil, nicht aber ihre Opfer.
Es ist ein Dummkopf-Problem, zu meinen, dass Reichtum die Menschen unabhängiger macht. Als Beweis dafür genügt die gegenwärtige Situation vollauf. Jeder weiß, dass wir in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie so reich waren. Und noch nie waren wir so verschuldet (in der Antike galt ein Mensch, der Schulden hatte, prinzipiell als unfrei, als Gefangener). Mehr muss zum Thema »Wirtschaftswachstum« nicht gesagt werden.
Auf lokaler Ebene werden wir wohl einfach in einem bestimmten Milieu sozialisiert und damit automatisch auf den Tretmühleneffekt geeicht. Man verdient mehr, zieht nach Greenwich, Connecticut, um, stellt fest, wie arm man dran ist in der Nähe einer Zwanzigmillionenvilla und Geburtstagspartys, die eine Million Dollar kosten. Und man wird immer abhängiger von seinem Job, vor allem wenn die Nachbarn fette, steuerlich begünstigte Wall-Street-Prämien einstreichen.
Diese Klasse von Menschen ähnelt Tantalus, der nach seinem Tod eine ewige Strafe erleiden musste: Er stand in einem Wasserbecken unter einem Obstbaum; wenn er nach der Frucht griff, bewegte sie sich von ihm weg, und wenn er zu trinken versuchte, sank der Wasserspiegel ab.
Und einem solchen permanent tantalisierten Zustand entspricht die Grundverfassung vieler Menschen heute. Die Römer verhinderten diese sozialen Tretmühleneffekte: Ein Großteil des sozialen Lebens spielte sich zwischen dem Patron und seinen vom Schicksal weniger begünstigten Klienten ab, die von seiner Großzügigkeit profitierten und an seinem Tisch aßen – und in schweren Zeiten mit seiner Unterstützung rechnen konnten. Es gab damals noch keine Wohlfahrtsinstitutionen und keine Kirchen, die Wohltaten verteilen oder zumindest propagieren
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