Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
die Dinge symmetrischer macht. Verbannung und Exil oder, schlimmer noch, Ostrazismus waren schwere Strafen – die Menschen veränderten ihren Wohnort nicht freiwillig und empfanden es als furchtbares Unglück, wenn sie gezwungen wurden, den Ort, an dem sie lebten, zu verlassen. In größeren Organismen wie dem riesigen heiligen Nationalstaat, in dem direkte Begegnungen von Mensch zu Mensch und soziale Verwurzelungen kaum eine Rolle spielen, ist Schande kein Korrektiv mehr. Wir müssen sie wieder einführen.
Und schließlich wäre da noch das Problem der Freundschaft, die Sozialisierung in einem bestimmten Milieu, der Umstand, Teil einer Gruppe von Menschen zu sein, die andere Interessen haben als die Allgemeinheit. Kleon, der Held des Peloponnesischen Kriegs, plädierte dafür, dass man öffentlich den Verzicht auf Freundschaften kundtun müsse, wenn man sich aktiv in öffentlichen Angelegenheiten engagiert – was ihm einige Schmähungen von Historikern eintrug.
Ein einfacher, wenn auch drastischer Lösungsvorschlag: Jedem, der eine Stelle im öffentlichen Dienst antritt, sollte es verwehrt sein, anschließend eine Stelle in der Privatwirtschaft zu übernehmen, bei der er mehr verdient als der höchstbezahlte Beamte. Das entspräche einer freiwilligen Deckelung (es würde verhindern, dass Stellen im öffentlichen Dienst lediglich als vorbereitende Zwischenstation auf dem Weg zur Wall Street genutzt werden, wo man dann mit den im öffentlichen Dienst angeeigneten Kenntnissen mehrere Millionen Dollar verdient). So hätten wir es dann in den Ämtern ausschließlich mit redlichen Personen zu tun.
Kleon erntete nichts als Verachtung, und auch in der heutigen Welt gibt es offenbar für diejenigen, die das Richtige tun, ein umgekehrtes Agency-Problem: Sie werden für ihren Dienst an der Öffentlichkeit mit Schmierkampagnen und Belästigungen überzogen. Der Aktivist und Verbraucherschützer Ralph Nader hatte aufgrund seiner Vorstöße gegen die Autoindustrie zahlreiche Schmierkampagnen auszuhalten.
Das Ethische und das Legale
Ich empfinde Scham darüber, dass ich eine bestimmte Gaunerei lange nicht an die Öffentlichkeit gebracht habe. (Wie gesagt: Wer einen Betrüger sieht … ) Ich nenne es das Alan-Blinder-Problem.
Folgendes war geschehen: In Davos wurde ich während einer privaten Unterredung beim Kaffee, bei der es, wie ich bis dahin angenommen hatte, darum ging, die Welt unter anderem vor moralischen Gefährdungen und Agency-Problemen in Schutz zu nehmen, von Alan Blinder angesprochen, vormals Vizepräsident der amerikanischen Federal Reserve Bank. Er wollte mir ein spezielles Investmentprodukt verkaufen, das letztlich darauf hinausläuft, auf legale Weise die Steuerzahler zu hintergehen. Einem Investor mit genügend Eigenkapital wird damit die Perspektive eröffnet, die Vorschriften zu umgehen, die die Einlagensicherung auf damals 100000 Dollar beschränkten, und von einer Absicherung praktisch unbegrenzter Beträge zu profitieren. Der Investor würde Beträge in beliebiger Höhe einzahlen, und die Gesellschaft von Professor Blinder würde sie in kleinere Beträge aufteilen und in verschiedene Banken investieren, womit die Obergrenze umgangen war; es sähe aus, als handele es sich um Einzelbeträge, wäre aber in voller Höhe versichert. Mit anderen Worten: Die Strategie würde den Superreichen die Möglichkeit eröffnen, den Steuerzahler zu betrügen, indem sie für eine von der Regierung finanzierte Versicherung nichts bezahlen müssten. Genau das war es: Betrug an den Steuerzahlern. Mit der Unterstützung ehemaliger Staatsangestellter und deren Wissensvorsprung, den sie als Insider haben.
Meine ganz spontane Reaktion: »Aber das ist doch unmoralisch?« Worauf mir erwidert wurde: »Es ist vollkommen legal«, gefolgt von dem noch verfänglicheren Argument: »Wir haben jede Menge ehemaliger Aufsichtsbeamter unter unseren Beschäftigten«, womit a) impliziert ist, dass das Legale auch das Moralische ist, und b) behauptet wird, ehemalige Aufsichtsbeamte hätten mehr Rechte als der Durchschnittsbürger.
Es dauerte ziemlich lang, ein paar Jahre, bevor ich auf diesen Zwischenfall reagierte und mein J’accuse veröffentlichte. Dabei ist Alan Blinder von all den Leuten, die mein moralisches Empfinden verletzt haben, nicht einmal der Schlimmste; er irritierte mich wohl vor allem aufgrund der Bedeutung seiner vormaligen öffentlichen Position, und bei dem Gespräch in Davos war es schließlich darum gegangen, die
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