Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
die Tendenz, kleine Wahrscheinlichkeiten zu unterschätzen. Kleine Wahrscheinlichkeiten sind nun einmal konvex im Verhältnis zu Berechnungsfehlern – so wie die Flugzeit konkav ist im Verhältnis zu Abweichungen und Störgrößen (Sie erinnern sich: Die Flugzeit wird länger, nicht kürzer). Je mehr Störfaktoren man mit einzubeziehen vergisst, desto länger, verglichen mit einer naiven Schätzung, dauert der Flug.
Jeder weiß, dass man bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit unter Verwendung einer statistischen Standardnormalverteilung einen Parameter namens Standardabweichung hinzuzieht – oder etwas Ähnliches, das den Umfang oder die Streuung der Werte charakterisiert. Ungewissheit bezüglich dieser Standardabweichung hat allerdings den Effekt, dass die kleinen Wahrscheinlichkeiten zunehmen. Beispielsweise erhöht sich für eine Abweichung namens »drei Sigma« die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, die nicht häufiger als einmal in 740 Beobachtungen vorkommen, um 60 Prozent, wenn man die Standardabweichung um 5 Prozent erhöht, und sie sinkt um 40 Prozent, wenn wir die Standardabweichung um 5 Prozent senken. Wenn der Fehler also im Schnitt winzige 5 Prozent beträgt, beläuft sich die Unterschätzung aufgrund eines naiven Modells auf ungefähr 20 Prozent. Eine beeindruckende Asymmetrie, aber das ist noch gar nichts. Schlimmer wird es, wenn man nach weiteren Abweichungen sucht, denjenigen vom Typ »sechs Sigma« (die leider in der Wirtschaft chronisch häufig auftreten): eine fünfmal so große Erhöhung. Je seltener das Ereignis (je höher also der »Sigma«-Wert), desto größer die Auswirkung einer kleinen Ungewissheit bezüglich dessen, was in die Gleichung eingeführt werden soll. Mit Ereignissen der Größenordnung von zehn Sigma vervielfacht sich der Unterschied um mehr als eine Milliarde. Wir können das Argument verwenden, um zu zeigen, wie immer geringere Wahrscheinlichkeiten immer größere Präzision in der Berechnung erfordern. Je geringer die Wahrscheinlichkeit, desto eher macht eine kleine, sehr kleine Rundung in der Berechnung die Asymmetrie grob belanglos. Für winzige, sehr kleine Wahrscheinlichkeiten benötigt man eine fast unendliche Präzision bei den Parametern; die kleinste Ungewissheit in diesem Bereich verursacht Chaos. Sie sind im Verhältnis zu Störungen sehr konvex. So sieht gewissermaßen das Argument aus, mit dem ich gezeigt habe, dass kleine Wahrscheinlichkeiten nicht berechenbar sind, selbst wenn man das richtige Modell hätte – aber wir haben ja nicht einmal das.
Dasselbe Argument gilt im Zusammenhang mit der nicht parametrischen Ableitung von Wahrscheinlichkeiten aus vergangenen Frequenzen. Wenn die Wahrscheinlichkeit in die Nähe von 1/Stichprobenumfang gerät, explodiert der Fehler. Das ist die Erklärung für den Fehler von Fukushima oder auch von Fannie Mae.
Kurzum: Kleine Wahrscheinlichkeiten nehmen in beschleunigter Weise zu, wenn man den Parameter verändert, der ihrer Berechnung zugrunde liegt.
Abbildung 38. Die Wahrscheinlichkeit ist konvex im Verhältnis zur Standardabweichung (StA) in einem Gauß’schen Modell. Das Diagramm zeigt den Ef-
fekt der Standardabweichung auf P>x und vergleicht P>6 mit einer StA von 1,5 verglichen mit P>6 unter der Annahme einer linearen Kombination von 1,2 und 1,8 (hier a(1)=1/5).
Besorgniserregend ist der Umstand, dass sich eine Störung in σ auf konvexe Weise in den Tail der Verteilung ausdehnt; die Risiken eines Portfolios, das auf Tails empfindlich reagiert, würden explosionsartig zunehmen. Wir sind hier also immer noch in der Gauß’schen Welt! Solch explosive Ungewissheit ist nicht das Resultat von natürlichen Fat Tails in der Verteilung, sondern vielmehr lediglich von einer kleinen Ungenauigkeit bezüglich eines zukünftigen Parameters – das ist nur Erkenntnistheorie! Diejenigen, die mit diesen Modellen arbeiten und gleichzeitig die Ungewissheit der Parameter eingestehen, machen sich also automatisch einer schweren Inkonsistenz schuldig. 96
Natürlich ist die Explosion der Unsicherheit noch schlimmer, wenn wir die Bedingungen der Nicht-Gauß’schen realen Welt auf störende Tail-Exponenten abbilden. Selbst mit einer Potenzgesetzverteilung ergeben sich ernstzunehmende Resultate, vor allem bei Variationen des Tail-Exponenten, denn diese haben fatale Konsequenzen. Man kommt nicht darum herum: Fat Tails implizieren, dass Extremereignisse nicht berechenbar sind.
Verschlimmerung der Ungewissheit
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