Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
wäre die Vorstellung der Antifragilität als einem Zustand, der über reine Fitness hinausgeht, vielleicht dazu in der Lage, gewisse Unklarheiten zu beseitigen. Denn was ist mit »Fitness« wirklich gemeint? Heißt es, dass man sich genau an die vergangenen Umstände einer bestimmten Umgebung angepasst hat oder dass man eine Umgebung mit Stressoren einer höheren Intensität antizipiert? In den meisten Fällen wird die erste Art der Anpassung favorisiert und die Idee der Antifragilität außen vor gelassen. Wollte man aber ein mathematisches Standardmodell der Selektion erstellen, dann würde man eher mit Überkompensation und nicht mit »Fitness« arbeiten. 11
Selbst die Psychologen, die die antifragile Reaktion des posttraumatischen Wachstums analysiert haben und Daten dazu vorlegen, verstehen den Zusammenhang nicht ganz, wenn sie begrifflich auf den Terminus »Resilienz« zurückgreifen.
Über Antifragilität bei Aufständen und in der Liebe. Wer überraschenderweise noch von Stress profitiert
Hat man erst einmal eine gewisse Kontextabhängigkeit überwunden, dann gewinnt man den Eindruck, das Phänomen der Überkompensation sei allgegenwärtig.
Menschen, die das Phänomen der bakteriellen Resistenz im Bereich der Biologie durchaus nachvollziehen können, begreifen nicht die Erkenntnis Senecas in De Clementia über den umgekehrten Effekt von Bestrafungen: »Wiederholte Bestrafungen brechen vielleicht den Hass von einigen wenigen, fachen aber den Hass von allen an … – so wie gestutzte Bäume zahllose Triebe hervorbringen.« Revolutionen speisen sich aus Repression, und es wachsen schneller und schneller Köpfe nach, wenn (buchstäblich) einige abgeschlagen werden, indem man Demonstranten umbringt. In einem irischen Revolutionslied wird dieser Zusammenhang präzise auf den Punkt gebracht:
Je höher ihr eure Barrikaden zieht, desto stärker werden wir.
Die Stimmung der Menge schlägt irgendwann um; die Menschen werden blind vor Wut und Empörung. Zusätzlich angefeuert werden sie durch den Heroismus einiger weniger, die bereit sind, ihr Leben um der Sache willen zu opfern (obwohl sie es nicht unbedingt als Opfer verstehen), und nach dem Privileg gieren, Märtyrer zu werden. Politische Bewegungen und Aufstände können äußerst antifragil sein, und es zeugt von einem hohen Maß an Dummheit, wenn man versucht, sie mit roher Gewalt zu unterdrücken, anstatt sie zu manipulieren, nachzugeben oder wie Herkules im Kampf mit der Hydra mit einer klugen List zu arbeiten.
Wenn Antifragilität etwas ist, das als Reaktion auf Stressoren und Schädigungen entsteht, das überreagiert und überkompensiert, dann ist eines der antifragilsten Phänomene, die man außerhalb des Wirtschaftslebens findet, eine bestimmte Art von hartnäckiger Liebe (oder Hass), ein Gefühl, das auf Hindernisse wie Distanz, familiäre Unverträglichkeiten und jeden Versuch, es zu zerstören, mit Überreaktion und Überkompensation reagiert. Es wimmelt in der Weltliteratur nur so von diesen Figuren, die – man muss wohl sagen, gegen ihren Willen – in einer Art antifragiler Passion befangen sind. In Prousts umfangreichem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verliebt sich der kultivierte jüdische Kunsthändler Swann in Odette, eine Art Halbweltdame und Kurtisane; sie aber straft ihn mit Verachtung. Ihr ausweichendes Verhalten facht seine Besessenheit an, er erniedrigt sich, um auch nur ein wenig mehr Zeit mit ihr verbringen zu können. Notorisch heftet er sich an ihre Fersen, folgt ihr zu ihren Rendezvous mit anderen Männern, verbirgt sich ungeniert in Treppenhäusern, was sie natürlich ihrerseits dazu bringt, ihm noch mehr auszuweichen. Man nimmt an, dass diese Geschichte eine Fiktionalisierung von Prousts eigener Beziehung zu seinem Chauffeur ist.
Oder denken Sie an Dino Buzzatis halb autobiographischen Roman Un Amore , die Geschichte eines Mailänders mittleren Alters, der sich – natürlich zufällig – in eine Tänzerin der Scala verliebt, die auch als Prostituierte arbeitet.Wie nicht anders zu erwarten, behandelt sie ihn schlecht, nutzt ihn aus, übervorteilt ihn, schröpft ihn; und je schlechter sie ihn behandelt, desto mehr lässt er es sich gefallen, um seinen antifragilen Durst nach einigen wenigen Momenten mit ihr zu stillen. Doch die Geschichte hat immerhin eine Art Happy End: Buzzati selbst heiratete mit sechzig eine 25-jährige ehemalige Tänzerin, Almerina, die offenbar das Vorbild für seine Romanfigur abgegeben
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