Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
orientiere man sich am Format des bedeutendsten Kritikers oder am Format des bedeutungslosesten Kritikers, den der Autor einer Erwiderung für würdig hält – je nachdem, welches geringer ist.
Auch Kritik kann gegen Unterdrückung antifragil sein, wenn der Kritikaster seinerseits wiederum angegriffen werden möchte, um selbst auch eine gewisse Wertschätzung zu erfahren. Jean Fréron, von dem es heißt, er sei ein außerordentlich missgünstiger Denker gewesen – mit all der Mittelmäßigkeit, die Missgunst mit sich bringt –, schaffte es einzig dadurch, sich in der Geistesgeschichte einen Platz zu sichern, dass er den ansonsten brillanten Voltaire derart aus der Fassung brachte, dass dieser satirische Gedichte gegen ihn verfasste. Voltaire, der selbst eine Nervensäge war und dem es immer wieder gelang, Menschen gegen sich aufzubringen und von ihren Reaktionen zu profitieren, verlor diese Mechanismen, wenn es um seine eigene Person ging, vollständig aus den Augen. Vielleicht besteht der Charme Voltaires darin, dass er nicht merkte, wann es angebracht war, sich mit seinem Witz zurückzuhalten. Dieselben verborgenen Antifragilitäten wirken in Angriffen auf unser Denken und unsere Person: Wir fürchten negative Publicity und haben eine Abneigung dagegen; andererseits aber sind Hetzkampagnen, wenn wir sie überleben, für uns von großem Nutzen, falls die Person dahinter ausreichend motiviert und ordentlich wütend ist – ähnlich wie wenn Sie hören, dass sich eine Frau vor einem Mann über eine andere Frau den Mund zerreißt (oder umgekehrt). Immerhin kommt hier ja eine Auswahlverzerrung zum Ausdruck: Warum hat er ausgerechnet Sie angegriffen und nicht irgendjemand anderen aus den Millionen und Abermillionen von Menschen, die es verdienten, aber eines Angriffs nicht würdig sind? Die Anstrengung, die er unternimmt, um Sie anzugreifen oder schlechtzumachen, wird Sie – ganz im Sinne der Antifragilität – bekannt machen.
Mein Urgroßvater Nicolas Ghosn war ein gewiefter Politiker, der es trotz seiner zahlreichen Feinde (vor allem seines Erzfeinds, meines Ururgroßvaters auf der Taleb-Seite meiner Familie) schaffte, an der Macht zu bleiben und immer ein Regierungsamt zu bekleiden. In der Zeit, als mein Großvater, sein ältester Sohn, seine Verwaltungs- und, wie alle hofften, auch politische Laufbahn begann, rief ihn sein Vater an sein Totenbett. »Mein Sohn, ich bin sehr enttäuscht von dir«, sagte er. »Nie kommen mir falsche Gerüchte über dich zu Ohren. Offensichtlich bist du nicht dazu in der Lage, Neid zu erregen.«
Wechseln Sie den Beruf
Wie wir bei der Voltaire-Episode sahen, ist es nicht möglich, Kritik zum Verschwinden zu bringen; wenn sie Ihnen schadet, dann steigen Sie aus. Es ist einfacher, den Beruf zu wechseln, als Ihren Ruf oder die öffentliche Wahrnehmung zu kontrollieren.
Einige Berufe sind im Hinblick auf Rufschädigungen fragil – und es ist unmöglich, Rufschädigungen im Zeitalter des Internet zu unterbinden. Solche Berufe sollte man also gar nicht erst in Erwägung ziehen. Es hat keinen Sinn, den eigenen Ruf »kontrollieren« zu wollen, indem man den Informationsfluss kontrolliert; es ist schlicht ausgeschlossen. Stattdessen sollten Sie an Ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit arbeiten, etwa indem Sie sich in eine Position bringen, die immun ist gegen Rufschädigungen. Oder schaffen Sie sich Umstände, in denen Sie von der Antifragilität von Informationen sogar profitieren können. In diesem Sinn ist ein Schriftsteller antifragil, und die meisten heutigen Berufe sind es, wie ich später zeigen werde, nicht.
Ich war in Mailand und versuchte meinem italienischen Verleger Luca Fromenton (unter Zuhilfenahme eines beträchtlichen Ausmaßes an Körpersprache und Gesten) das Phänomen der Antifragilität zu erklären. Zum Teil war ich wegen der Muskateller Dessertweine gekommen, zum Teil auch wegen einer Tagung, als deren zweiten Hauptreferenten man einen berühmter Fragilisten und Wirtschaftswissenschaftler eingeladen hatte. Mir fiel dann plötzlich ein, dass ich ja ein Autor war, und ich legte Luca das folgende Gedankenexperiment vor: Wenn ich den Ökonomen öffentlich verprügelte, welche Folgen würde das für mich haben (außer einer öffentlichen Gerichtsverhandlung, die großes Interesse an der neuen Antithese Fragilist versus Antifragilist hervorrufen würde)? Man muss dazusagen, dass dieser Ökonom ein so genanntes Ohrfeigengesicht hatte, ein Gesicht, das einen förmlich
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