Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
zu sprechen, mit der übertriebenen Artikulation eines Fernsehansagers, womöglich noch auf dem Podium ein paar Tanzschritte einzulegen, um mir die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu sichern. Manchmal werden Autoren von ihren Verlagshäusern in »Sprachschulen« geschickt – als mir das zum ersten Mal vorgeschlagen wurde, verließ ich den Raum und beschloss, auf der Stelle den Verleger zu wechseln. Ich halte es für besser, zu flüstern anstatt zu schreien. Besser, nicht ganz verständlich – etwas unklar zu sein. In meiner Zeit als Parkett-Händler (einer dieser verrückten Leute, die in einer überfüllten Arena stehen und sich in einer Dauer-Auktion die Lunge aus dem Hals schreien) habe ich gelernt, dass der Lärm, den eine Person macht, in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Platz in der Hackordnung steht: Wie bei den Mafiabossen sind die mächtigsten Trader die, die man am wenigsten hört. Man sollte über genügend Selbstkontrolle verfügen, um die Zuhörer so weit zu bekommen, dass sie sich wirklich anstrengen müssen, um dem Vortragenden folgen zu können; das führt dazu, dass sie intellektuell den höchsten Gang einlegen. Dieses Aufmerksamkeitsparadox wurde auch schon wissenschaftlich untersucht: Es gibt empirische Beweise für den so genannten Verzögerungseffekt. Geistige Anstrengung lässt uns mental einen Gang höher schalten, sie aktiviert energischere, analytischere Verarbeitungsmechanismen im Gehirn. 8 Der Managementguru Peter Drucker und der Psychoanalytiker Jacques Lacan, die beide ihre Zuhörer in ihren jeweiligen Gebieten in höchstem Maße zu fesseln vermochten, waren das genaue Gegenteil dieser glatten, schicken Profisprecher oder der Fernsehansager, bei denen jeder Konsonant korrekt artikuliert ist.
Der gleiche oder ein ähnlicher Überkompensationsmechanismus hat zur Folge, dass wir uns besser konzentrieren können, wenn wir von einigen wenigen Hintergrundgeräuschen umgeben sind, als ob die Anstrengung, gegen diese Geräusche anzuarbeiten, uns dabei helfen würde, unseren mentalen Fokus zu schärfen. Man denke nur an die bemerkenswerte Fähigkeit, mit der Menschen zur Happy Hour Geräusche herausfiltern und das eine Signal in den vielen lauten Gesprächen identifizieren können. Wir sind nicht nur darauf angelegt, überzukompensieren, wir brauchen den Lärm manchmal geradezu. Wie viele andere Schriftsteller sitze ich gern in Cafés und arbeite, wie es so schön heißt, gegen Widerstand an. Beim Einschlafen hören wir gern Blätterrauschen oder die Meeresbrandung: Es gibt sogar elektrische Geräte, die »weißes Rauschen« erzeugen, 9 was manchen Menschen beim Einschlafen hilft. Diese kleinen Ablenkungen funktionieren natürlich wie alle hormetischen Reaktionen nur bis zu einem gewissen Grad. Ich habe es noch nicht ausprobiert, aber ich bin sicher, es wäre ziemlich schwierig, auf der Rollbahn des Flughafens Heathrow einen Essay zu verfassen.
Antifragile Reaktionen als Redundanz
Als ich bei meinem Besuch in London die Bezeichnung »posttraumatisch« hörte, ging mir schlagartig auf, dass diese antifragilen hormetischen Reaktionen eine Art von Redundanz darstellen, und damit wurde mir plötzlich das verbindende Prinzip sämtlicher Ideen von Mutter Natur klar. Es ist alles eine Sache der Redundanz. Die Natur neigt dazu, alles überzuversichern.
Mehrere Redundanzschichten sind das zentrale Merkmal des Risikomanagements natürlicher Systeme. Wir Menschen (wahrscheinlich sogar Buchhalter) haben zwei Nieren, wir verfügen in sehr vielen Bereichen (etwa bei den Lungen, im Nervensystem, bei der arteriellen Ausstattung) über Ersatzteile und zusätzliche Kapazitäten. Alles vom Menschen Gemachte hat im Unterschied dazu die Tendenz, zu sparsam vorzugehen, sozusagen umgekehrt redundant. Wir haben einen historischen Höchststand an Verschuldung erreicht, das glatte Gegenteil von Redundanz (fünfzigtausend als Reserve auf der Bank zu haben oder noch besser unter der Matratze – das ist Redundanz; der Bank denselben Betrag zu schulden ist das Gegenteil von Redundanz). Redundanz ist doppelbödig, man hat – solange nichts Ungewöhnliches passiert – den Eindruck, sie sei nichts als Verschwendung. Aber das Ungewöhnliche passiert eben – gewöhnlich – doch.
Und Redundanz ist nicht unbedingt nur eine Sache für übervorsichtige Feiglinge; sie kann extrem offensiv sein. Wenn Sie beispielsweise einen zusätzlichen Bestand an, sagen wir, Kunstdünger in Ihrem Warenlager haben, einfach nur um sicherzugehen,
Weitere Kostenlose Bücher