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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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würde. Ihre Risiken sind sichtbar. Bei Angestellten ist das nicht der Fall. Volatilität kennen sie nicht – bis sie eines Tages womöglich vom Anruf aus der Personalabteilung überrascht werden, in dessen Folge ihr Einkommen auf Null absinkt. Die Risiken eines Angestellten sind versteckt.
    Mit der Variabilität bringen Berufe wie der von George ein gewisses Maß an Antifragilität mit sich: Kleine Variationen regen dazu an, sich immer wieder anzupassen und zu verändern, indem man von der Umgebung lernt, da man ständig unter dem Druck steht, fit sein zu müssen. Stressoren sind Informationen; Menschen in solchen Berufen haben kontinuierlich mit Stressoren zu tun, die sie zu immer neuen Anpassungen an die gerade gegebene Situation nötigen. Außerdem sind sie offen für Geschenke und positive Überraschungen, für freie Optionen – das typische Kennzeichen von Antifragilität, wie ich im IV . Buch zeigen werde. Es kam immer wieder vor, dass Georges Kunden Ungewöhnliches verlangten, was er auch hätte ablehnen können: Während der Panik wegen des Vulkanausbruchs in Island, als der gesamte Flugverkehr lahmlag, bat ihn eine reiche alte Dame, sie zu einer Hochzeit nach Südfrankreich zu fahren – über dreitausend Kilometer Fahrt hin und zurück. Für eine Prostituierte besteht eine gewisse, wenn auch geringe Wahrscheinlichkeit, einen reichen Kunden so betören zu können, dass er ihr einen teuren Diamanten schenkt oder sie sogar bittet, seine Frau zu werden – für einen womöglich überschaubaren Zeitraum, bevor sie Witwe wird.
    Und George hat die Freiheit, seinen Job so lange zu machen, bis er wirklich nicht mehr kann (es gibt Taxifahrer, die arbeiten, bis sie über achtzig sind, hauptsächlich, um die Zeit totzuschlagen), denn er ist ja sein eigener Boss – ganz anders dagegen sein Bruder, der, wenn er seinen fünfzigsten Geburtstag erst hinter sich hat, praktisch nicht mehr vermittelbar ist.
    Der Unterschied zwischen den beiden Einkommens-Volatilitäten lässt sich auf politische Systeme erweitern und, wie ich in den nächsten beiden Kapiteln zeige, auf so ziemlich alle Lebensbereiche. Menschengemachte Glättung von Zufälligkeit führt zum Äquivalent des Einkommens von John: Es ist gleichförmig, beständig, aber fragil. Ein solches Einkommen ist verwundbarer für große Schocks, die es womöglich auf Null reduzieren (zuzüglich vielleicht einer gewissen Arbeitslosenunterstützung, wenn der Gekündigte in einem der wenigen Wohlfahrtsstaaten der Welt lebt). Natürliche Zufälligkeit hat mehr Ähnlichkeit mit Georges Einkommen: Sehr große Schocks sind seltener, stattdessen variiert die Situation täglich. Diese Variabilität trägt zur Verbesserung des Systems bei (und hat Antifragilität zur Folge). Wenn bei einem Taxifahrer oder einer Prostituierten eine Woche lang die Einkünfte zurückgehen, liefert das Informationen über das Umfeld, in dem sie arbeiten, und gibt die Notwendigkeit zu verstehen, einen neuen Stadtteil zu finden, in dem sich mehr potentielle Kunden aufhalten; ein Monat ohne Einkünfte treibt sie dazu an, ihre Fähigkeiten zu überprüfen und zu verbessern.
    Für einen Selbstständigen ist ein kleiner (nicht weiter tragischer) Fehler eine wertvolle Information, die ihn im Sinne einer besseren Anpassung in die richtige Richtung dirigiert; für einen Angestellten wie John ist ein Fehler ein Umstand, der, abgelegt in seiner Akte in der Personalabteilung, aus seinem Lebenslauf nicht mehr zu tilgen ist. Yogi Berra meinte einmal: »Wir haben den falschen Fehler gemacht« – und für John sind alle Fehler falsche Fehler. Die Natur liebt kleine Irrtümer (ohne sie gäbe es keine genetischen Variationen), die Menschen haben Angst davor – verlässt man sich also auf das menschliche Urteilsvermögen, dann liefert man sich einer mentalen Voreingenommenheit zum Nachteil der Antifragilität aus.
    Wir Menschen fürchten uns leider vor der zweiten Art von Variabilität und machen naiverweise unsere Systeme fragil beziehungsweise verhindern ihre Antifragilität, indem wir sie schützen. Mit anderen Worten – dieser Punkt muss einfach immer wieder unterstrichen werden –: Die Vermeidung von kleinen Fehlern verschlimmert die größeren.
    Der Zentralstaat ähnelt dem Einkommen Johns; das Stadtstaaten-Modell demjenigen von George. John hat einen einzigen großen Arbeitgeber, George dagegen viele kleine; George kann sich also diejenigen aussuchen, die ihm am meisten entgegenkommen, hat mithin jederzeit

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