Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Regierung hat. Fragen Sie Menschen auf der Straße, denen Sie zufällig begegnen, wie ihr Präsident heißt, und berechnen Sie den Anteil derer, die dazu in der Lage sind – die Namen der Präsidenten von Frankreich oder der USA wissen die meisten, nicht aber den ihres eigenen Landes. Der Schweizer Franken ist die stabilste (und zur Zeit der Abfassung dieses Buchs die sicherste) Währung weltweit, dabei ist die Zentralbank winzig, selbst im Verhältnis zur Größe ihrer Gebäude.
Sind sich die Politiker, die hier einen günstigen Moment abwarten, um (wie sie hoffen) wieder an die Macht zu kommen, darüber im Klaren, dass es hier keine Regierung gibt? Bringen sie die Tatsache, dass sie in der Schweiz sind, mit der Abwesenheit einer Regierung in Zusammenhang und modifizieren ihre Vorstellungen von Nationalstaaten und politischen Systemen dementsprechend? Natürlich nicht.
Es ist übrigens nicht ganz korrekt, dass die Schweizer keine Regierung haben. Sie haben keine große Zentral regierung oder eine Institution, die umgangssprachlich als »die« Regierung bezeichnet werden könnte – vielmehr ist das Herrschaftssystem durchgehend von unten nach oben strukturiert; kleine Gemeinwesen, die so genannten Kantone, nahezu souveräne Mini-Staaten sind in einem Bündnis zusammengeschlossen. Es herrscht ein hohes Maß an Volatilität, dazu gehören auch Feindseligkeiten zwischen Anwohnern, die sich auf der Ebene von Streitigkeiten um Quellen oder ähnlich uninspirierende Themen bewegen. Angenehm ist das nicht unbedingt, da Nachbarn sich in Wichtigtuer verwandeln können – zwar keine Diktatur von oben, sondern von unten, aber doch trotzdem eine Diktatur. Allerdings liefert diese Bottom-up-Diktatur Schutz gegen die romantische Verblendung durch Utopien, denn in einer derart unintellektuellen Atmosphäre können keine großen Ideen gedeihen – um das nachzuprüfen, muss man nur eine Zeitlang in einem Café in der Altstadt von Genf sitzen, vorzugsweise an einem Sonntagnachmittag, und man wird merken, dass das, was hier abläuft, hochgradig unintellektuell ist, frei von jeglicher Grandiosität, bis hin zur Spießigkeit. (Es gibt den berühmten Spruch darüber, dass die größte Leistung der Schweizer die Erfindung der Kuckucksuhr war, während andere Nationen weltgeschichtlich umwälzende Taten vollbrachten. Zweifellos eine nette Geschichte, allerdings waren es nicht die Schweizer, die die Kuckucksuhr erfunden haben.) Aber das System erzeugt Stabilität, langweilige Stabilität, auf jeder denkbaren Ebene.
Man darf auch nicht vergessen, dass die abscheuliche Glamourwelt, die man an manchen Orten in der Schweiz antrifft – in Genf, in einigen Teilen von Zürich (Zentrum) und vor allem in Wintersportorten wie Gstaad und Sankt Moritz –, weder das direkte Produkt des Landes noch Ausdruck seines Selbstverständnisses ist, sondern dass vielmehr der Erfolg der Schweiz eine magnetische Wirkung auf hässliche Reiche und Steuerflüchtlinge ausübt.
Festzuhalten ist: Die Schweiz ist das letzte größere Land, das kein Nationalstaat ist, sondern ein Zusammenschluss kleiner, weitgehend sich selbst überlassener Gemeinwesen.
Bottom-up-Variationen
Als Bottom-up-Variationen – oder Störgeräusche – bezeichne ich die Art politischer Volatilität, die innerhalb eines kleineren Gemeinwesens anzutreffen ist, die kleinlichen Streitigkeiten und Reibereien des Alltags. Dergleichen ist nicht skalierbar (es ist bei Skalentransformation invariant ). Mit anderen Worten, vergrößert man das Ganze, indem man etwa die Anzahl der Mitglieder einer Gemeinschaft um das Hundertfache erhöht, hat das markant veränderte Dynamiken zur Folge. Ein großer Staat funktioniert nicht wie eine riesige Gemeinde, so wie ja auch ein Baby nicht das Aussehen eines kleinen Erwachsenen hat. Der Unterschied ist qualitativer Art: Die Erhöhung der Personenzahl in einer Gemeinschaft verändert die Qualität der Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppen. Sie erinnern sich an die Beschreibung von Nichtlinearität im Prolog. Verzehnfacht man die Anzahl von Personen einer gegebenen Gruppe, dann lassen sich die Eigenschaften der Gruppe nicht aufrechterhalten, vielmehr findet eine Transformation statt. Der Austausch untereinander wechselt vom Banalen, aber Effektiven zu abstrakten Zahlen, die vielleicht interessanter, vielleicht akademischer sind, aber leider weniger effektiv.
Eine Gruppe von kleineren Gemeinwesen mit charmant-provinziellen Streitigkeiten, ihren inneren
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