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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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Kämpfen und Menschen, die sich gegenseitig auf die Nerven gehen, verbindet sich zu einem recht gutartigen, stabilen Staatswesen. Die Schweiz hat, wie ich gezeigt habe, strukturell Ähnlichkeit mit dem Einkommen des zweiten Bruders: Sie ist stabil aufgrund der Variationen und Störgeräusche auf der lokalen Ebene. Das Einkommen des Taxifahrers ist im Blick auf den einzelnen Tag instabil, aufs Jahr umgerechnet jedoch stabil; ebenso ist die Schweiz insgesamt stabil, da die Gesamtheit der Kantone ein solides System ergibt.
    Menschen gehen mit lokalen Finanzangelegenheiten vollkommen anders um als mit großen abstrakten öffentlichen Ausgaben: Wir haben früher in kleinen Einheiten und Stämmen gelebt, und das lief recht gut. 22
    Außerdem spielt in einem überschaubaren Gemeinwesen die Biologie eine Rolle, nicht aber in einem größeren System. Ein Regierungsbeamter ist gegen das Gefühl von Scham (das sich als Röte in seinem Gesicht manifestieren würde – eine biologische Reaktion auf Überschuldung und andere Missgriffe wie etwa die Ermordung von Menschen in Vietnam) immun. Augenkontakt mit den Menschen meiner Umgebung verändert mein Verhalten. Für einen an den Schreibtisch geketteten Lurch allerdings ist eine Zahl einfach nur eine Zahl. Ein Mensch, den man sonntags in der Kirche trifft, empfindet Unbehagen wegen seiner Fehler – und entwickelt ein stärkeres Verantwortungsgefühl. In einem kleinen, lokalen Kontext würde er körperlich, aufgrund seiner physiologischen Reaktionen davon abgehalten, anderen zu schaden. In groß angelegten Systemen sind die anderen nichts als abstrakte Elemente; da ein Beamter keinen direkten Kontakt mit den betreffenden Menschen hat, lässt er sich mehr von seinem Gehirn, anstatt von seinen Gefühlen leiten und stützt sich nur auf Zahlen, Tabellen, Statistiken, noch mehr Tabellen und Theorien.
    Als ich diesen Gedanken meinem Koautor Mark Blyth erläuterte, platzte aus ihm heraus: »In einem kleineren Gemeindewesen wäre also eine Person wie Stalin undenkbar gewesen!«
    Small is beautiful – das gilt noch in vielerlei anderer Hinsicht. Halten wir im Moment fest, dass das Kleine (in der Summe, also eine Ansammlung kleiner Einheiten) antifragiler ist als das Große – das Große ist faktisch zum Scheitern verurteilt, eine mathematische Eigenschaft, auf die ich später noch zu sprechen komme. Sie ist offensichtlich allgemeingültig und tritt bei großen Wirtschaftsunternehmen, sehr großen Säugetieren und großen Verwaltungsapparaten auf. 23
    Ein weiteres Problem mit dem abstrakten Staat ist psychologischer Natur. Das Unkonkrete lässt uns Menschen kalt. Ein weinendes Baby erregt in uns größeres Mitleid als Tausende von Menschen, die irgendwo sterben und deren Tod nicht übers Fernsehen in unsere Wohnzimmer gelangt. Ersteres ist eine Tragödie, Letzteres lediglich eine Statistik. Unsere emotionale Energie ist blind gegenüber Wahrscheinlichkeiten. Die Medien verschlimmern diesen Umstand, indem sie unseren Hang zu Anekdoten und unsere Sensationsgier bedienen, womit sie viel Ungerechtigkeit verursachen. Gegenwärtig stirbt alle sieben Sekunden ein Mensch an Diabetes, aber in den Nachrichten wird mit Bildern von Häusern, die durch die Luft fliegen, lediglich von Hurrikanopfern berichtet.
    Durch die Einrichtung von Bürokratien bringen wir Beamte in eine Position, in der sie, ausgehend von abstrakten und theoretischen Daten, Entscheidungen fällen; und wir wiegen uns dabei in der Illusion, sie würden diese Entscheidungen auf rationale, verantwortliche, nachvollziehbare Weise fällen.
    Und dann halten Sie sich vor Augen, dass es Lobbyisten – die unerfreuliche Gattung der Lobbyisten – in einer überschaubaren Gemeinde oder einer kleineren Region nicht geben kann. Aufgrund der Zentralisation der Macht (in gewissem Umfang) machen die Europäer in der Europäischen Kommission in Brüssel mit Schrecken Bekanntschaft mit diesen Mutanten, deren Existenzzweck darin besteht, die Demokratie zugunsten einiger Großunternehmer zu manipulieren. Indem ein einzelner Lobbyist eine einzige Entscheidung oder Bestimmung in Brüssel beeinflusst, kann er den großen Reibach machen. Das zahlt sich (bei geringem Einsatz) in einem viel größeren Ausmaß aus, als es in überschaubaren Gemeinwesen möglich wäre, wo man, um die Menschen zu überzeugen, Heerscharen von Lobbyisten brauchen würde. 24
    Nicht zu vergessen der Effekt am anderen Ende der Skala: Bei kleinen Unternehmen ist es weniger

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