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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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»mehr Optionen«. Der eine Bruder hat die Illusion von Stabilität, ist aber fragil; der andere hat die Illusion von Variabilität, ist aber robust, ja sogar antifragil.
    Je mehr Variabilität man in einem System beobachtet, desto weniger anfällig ist es für Schwarze Schwäne. An der Geschichte der Schweiz lässt sich studieren, inwiefern das für politische Systeme gilt.
    Lenin in Zürich
    Kürzlich war ich in einem teuren Restaurant in Zürich, einem ehemaligen Café, und grübelte über der Speisekarte, die mit Preisen aufwartete, die mindestens dreimal so hoch waren wie die Preise an vergleichbaren Lokalitäten in den USA . Die aktuelle Weltwirtschaftskrise hatte den Status der Schweiz als sicherer Hafen noch einmal bekräftigt und verstärkt und zu einem dramatischen Kursanstieg der Landeswährung geführt – die Schweiz ist der antifragilste Ort unseres Planeten; sie profitiert von den Erschütterungen, die sich außerhalb ihrer Grenzen zutragen. Mein Freund, ein Schriftsteller, wies mich darauf hin, dass Lenin, der eine Zeitlang in Zürich gelebt hatte, in diesem Café mit dem dadaistischen Dichter Tristan Tzara Schach zu spielen pflegte. Eben jener russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow, später bekannt als Lenin, verbrachte einige Jahre in der Schweiz und heckte dort sein Projekt des großen modernistischen Top-down-Staates aus, dem ausgedehntesten Menschenexperiment im Bereich zentralisierter Staatskontrolle. Es schauderte mich bei dem Gedanken, dass Lenin hier gewesen war, denn nur wenige Tage zuvor hatte ich an einer Konferenz in Montreux am Genfer See teilgenommen, die im selben Hotel am Seeufer stattfand, in dem Vladimir Nabokov, emigrierter russischer Aristokrat und Opfer Lenins, die letzten Jahre seines Lebens verbrachte.
    Ich fand es interessant, dass es offensichtlich mit zur Hauptbeschäftigung der Schweizer Eidgenossenschaft gehörte, den Roten und den Weißen, sowohl den Bolschewiken als auch den aristokratischen Weißrussen, die die Bolschewiken dann später vertrieben, Aufnahme zu gewähren. In den großen Städten wie Zürich, Genf oder Lausanne gibt es noch Spuren der politischen Flüchtlinge, die dort Zuflucht suchten: emigrierte Mitglieder der iranischen Königsfamilie, die von den Islamisten aus dem Land vertrieben wurden, bis hin zu dem erst kürzlich exilierten afrikanischen Potentaten, der seinen »Plan B« in die Tat umsetzte. Sogar Voltaire hielt sich hier eine Zeitlang auf, und zwar in Ferney, einem französischen Vorort von Genf in der Nähe der Schweizer Grenze (noch bevor Genf der Eidgenossenschaft beitrat). Voltaire, der perfekt protegierte Unruhestifter, floh nach Genf, nachdem er den König von Frankreich, die katholische Kirche oder eine andere Autorität beleidigt hatte, und – was man übrigens meistens nicht weiß –: Er hatte auch finanzielle Gründe, hier Schutz zu suchen. Voltaire war ein Selfmademan, ein wohlhabender Kaufmann, Investor und Aktienspekulant. Man darf nicht vergessen, dass sich ein beträchtlicher Teil seines Reichtums der Antifragilität von Stressoren verdankt. Mit dem Aufbau seines Vermögens begann er in der ersten Zeit seines Exils.
    Und es gibt auch Flüchtlinge anderer Art, die aus ähnlichen Gründen hier sind wie Voltaire: Finanzflüchtlinge, die aus politischen Unruhegebieten kommen und an ihrer teuren, langweiligen Bekleidung, ihrem nichtssagenden Vokabular, dem gekünstelten Benehmen und den teuren (glitzernden) Armbanduhren zu erkennen sind – mit anderen Worten, alles andere als Personen vom Format eines Voltaire. Wie so viele reiche Menschen halten sie sich für berechtigt, über ihre eigenen Witze zu lachen. Diese (faden) Leute brauchen selbst keinen Schutz für Leib und Leben – schutzbedürftig sind vielmehr ihre Vermögen. Manche politisch verfolgten Personen würden sich vor den Gefahren, die von den Machthabern in ihrem Land ausgehen, lieber in Frankreich und England verstecken, wo samstagabends sicher mehr los ist; ihr Bankkonto dagegen fühlt sich in der Schweiz am wohlsten. Die Schweiz ist in ökonomischer Hinsicht der robusteste Ort auf dem Planeten – und das bereits seit einigen Jahrhunderten.
    Dieses breite Spektrum an Menschen und ihrer Brieftaschen befindet sich in der Schweiz, da sich das Land als sicherer, stabiler Zufluchtsort anbietet. Doch all diese Flüchtlinge bemerken das Offensichtliche nicht: Das stabilste Land der Welt hat keine Regierung . Und es ist nicht stabil, obwohl, sondern weil es keine

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