Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
zu ergründen. Ein venezianisches Sprichwort lautet: Das Meer wird immer tiefer, je weiter man sich hineinbegibt .
Neugier ist antifragil, wie eine Sucht, und sie vergrößert sich mit jedem Versuch, sie zu stillen – Bücher tragen eine geheime Mission und Fähigkeit in sich, sich zu vermehren, wie jeder weiß, dessen Wände mit Bücherregalen überzogen sind. Nero lebte zur Zeit der Abfassung dieses Texts mit fünfzehntausend Büchern und dem damit verbundenen Stress, jeden Tag nach der Ankunft seiner Bücherlieferung leere Schachteln und Verpackungsmaterial entsorgen zu müssen. Ein Thema, zu dem Nero aus reinem Vergnügen las und nicht aus dem sonderbaren Pflichtgefühl heraus, zu lesen, um gelehrter zu werden, waren medizinische Texte; dafür besaß er eine natürliche Neugier. Die Neugier rührte daher, dass er zwei Begegnungen mit dem Tod hinter sich hatte: die erste aufgrund von Krebs, die zweite im Zusammenhang mit einem Hubschrauberabsturz, was ihm sowohl die Fragilität der Technik als auch die Selbstheilungskräfte des menschlichen Körpers vor Augen geführt hatte. Einen Teil seiner Zeit verbrachte er also damit, Fachbücher (keine Aufsätze – Bücher) über medizinische Themen zu lesen.
Nero hatte eine Ausbildung auf dem Gebiet der Statistik und Wahrscheinlichkeit hinter sich – für ihn ein Spezialgebiet der Philosophie. Sein gesamtes Erwachsenenleben hatte er damit zugebracht, ein philosophisch-technisches Buch mit dem Titel Wahrscheinlichkeit und Meta-Wahrscheinlichkeit zu verfassen. Er hatte die Tendenz, das Projekt alle zwei Jahre aufzugeben und zwei Jahre später die Arbeit daran wieder aufzunehmen. Seiner Meinung nach war die herkömmliche Vorstellung von Wahrscheinlichkeit zu eng und unvollständig, als dass sie dazu in der Lage gewesen wäre, die wahre Natur von Entscheidungen in der Ökologie der realen Welt zum Ausdruck zu bringen.
Nero liebte es, in alten Städten ohne Stadtplan lange Spaziergänge zu unternehmen. Um seine Reisen von jeder Ähnlichkeit mit touristischen Unternehmungen zu befreien, wandte er folgende Methode an: Er versah sein Reiseprogramm mit einem ordentlichen Schuss Zufälligkeit, indem er sich grundsätzlich nie Gedanken über sein nächstes Ziel machte, bevor er nicht eine gewisse Zeit an seinem ersten Ziel verbracht hatte, womit er seine Reiseagentur in den Wahnsinn trieb – nehmen wir an, er war in Zagreb, dann hing sein nächstes Ziel von seinem Gemütszustand in Zagreb ab. Im Großen und Ganzen war es der Geruch von Orten, der ihn zu ihnen brachte – Gerüche lassen sich in Katalogen nicht wiedergeben.
Wenn er in New York war, saß Nero meistens in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch am Fenster, schaute ab und an versonnen nach New Jersey auf der anderen Seite des Hudson hinüber und dachte, wie gut es sich doch traf, dass er dort nicht leben musste. Daher gab er Fat Tony (ähnlich undiplomatisch formuliert) zu verstehen, dass das mit dem »keine Verwendung haben« auf Gegenseitigkeit beruhe, was, wie wir sehen werden, so nicht stimmte.
Über Dummköpfe und Nicht-Dummköpfe
Nach der Krise des Jahres 2008 wurde klar, was die beiden gemeinsam hatten: Sie hatten eine Krise prognostiziert, die auf der Fragilität von Dummköpfen beruhte. Was sie verband: Beide waren überzeugt gewesen, dass eine Krise von solcher Dimension zwingend kommen musste und dass sie eine lawinenartige Zerstörung des modernen Wirtschaftssystems mit sich bringen würde, in einer Art und einem Ausmaß, die beispiellos waren – und zwar einfach aufgrund des Umstands, dass es Dummköpfe gab. Allerdings kamen unsere beiden Helden aus zwei vollständig unterschiedlichen Denkschulen.
Fat Tony war der Meinung, dass Nerds, Vermögensverwalter und vor allem Banker Dummköpfe der übelsten Art waren (und er vertrat diese Überzeugung auch schon zu einer Zeit, da jeder sie noch für Genies gehalten hatte). Mehr noch: Er glaubte, dass sie zusammengenommen noch größere Dummköpfe waren als jeder für sich. Und er hatte eine Art Begabung, diese Dummköpfe zu erkennen, bevor sie zusammenklappten. Fat Tony bezog aus dieser Tätigkeit sein Einkommen, während er, wie wir gesehen haben, ein Leben des Müßiggangs führte.
Neros Interessen waren ganz ähnlich wie die Tonys, allerdings kamen sie im Gewand tradierter Denkweisen daher. Nero war der Auffassung, ein System, das auf der Illusion aufbaut, man könne Wahrscheinlichkeit verstehen, müsse notwendigerweise zusammenbrechen.
Indem sie Wetten
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