Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Philosophie, Religion und Technik. Im elften Kapitel komme ich auf die Hantelstrategie zu sprechen und erkläre, warum die duale Strategie – hohe Risiken mit äußerst konservativen Verfahren zu mischen – einer Herangehensweise vorzuziehen ist, bei der man von einem schlichten Durchschnittsrisiko ausgeht.
Am Anfang von Buch III aber soll die Geschichte unserer beiden Freunde stehen, die sich einen großen Spaß daraus machen und obendrein noch ihren Lebensunterhalt damit verdienen, Fragilität aufzudecken und mit dem Missgeschick der Fragilisten zu spielen.
Kapitel 9
Fat Tony und die Fragilisten
Olfaktorische Methoden bei der Wahrnehmung von Fragilität – Probleme mit dem Mittagessen – Einfach schnell den Umschlag öffnen – Eine gewisse Umverteilung der Welt, wahrgenommen von New Jersey aus – Das Meer wird immer tiefer, je weiter man sich hineinbegibt
Man sieht sich zum Lunch
Vor der Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 wäre es nicht einfach gewesen, einem Außenstehenden die Beziehung zwischen Nero Tulip und Tony DiBenedetto, auch »Fat Tony« oder, politisch korrekter, »Tony Horizontal« genannt, zu erklären.
Die Hauptbeschäftigung in Neros Leben ist das Lesen von Büchern, unterbrochen von sporadischen Zusatzaktivitäten. Fat Tony liest so wenig, dass Nero, als Fat Tony eines Tages die Absicht kundtat, seine Memoiren zu schreiben, witzelte: »Dann hätten Sie genau ein Buch mehr geschrieben als gelesen« – woraufhin Fat Tony, der Nero immer ein paar Schritte voraus ist, Nero zitierte: »Sie sagten ja selbst einmal, wenn Sie das Bedürfnis hätten, einen Roman zu lesen, würden Sie einen schreiben.« (Nero hatte irgendwann den britischen Premierminister und Romancier Benjamin Disraeli zitiert, der Romane schrieb, sie aber nicht lesen wollte.)
Tony wuchs in Brooklyn auf und verlegte seinen Wohnsitz dann nach New Jersey, und er hat genau den Akzent, den man aus dieser Kombination erwarten darf. Unbelastet von zeitfressenden (und seiner Ansicht nach »nutzlosen«) Lektüreaktivitäten und im höchsten Maß allergisch gegen strukturierte Büroarbeit verbrachte Fat Tony viel Zeit damit, nichts zu tun, ein Zustand, der nur von gelegentlichen kommerziellen Transaktionen unterbrochen wurde. Und natürlich ausführlichen Mahlzeiten.
Die zentrale Rolle des Mittagessens
Während die meisten Menschen in ihrer Umgebung herumhasteten und mit den verschiedenen Varianten von Misserfolg kämpften, hatten Nero und Fat Tony eines gemeinsam: Es graute ihnen vor Langeweile, vor allem vor der Perspektive, morgens aufzuwachen und einen leeren Tag vor sich zu haben. Der unmittelbare Grund für ihre Zusammenkünfte vor der Krise war also, wie Fat Tony es formulierte, »doing lunch«. Wenn Sie in einer betriebsamen Stadt wie beispielsweise New York leben und ein umgänglicher Zeitgenosse sind, werden Sie kein Problem damit haben, nette Begleiter für das Abendessen zu finden, Menschen, mit denen eine gepflegte, entspannte Konversation von einigem Interesse möglich ist. Das Mittagessen ist im Unterschied dazu ein entschieden komplizierterer Fall, vor allem in Phasen der Vollbeschäftigung. Natürlich findet man unter den Insassen der Büros in der Nachbarschaft immer einen Begleiter, aber glauben Sie mir – mit diesen Leuten wollen Sie nichts zu tun haben. Aus ihren Poren sickern Stresshormone in flüssiger Form, ängstlich vermeiden sie Themen, die sie womöglich von dem ablenken könnten, was sie für ihre »Arbeit« halten, und wenn Sie im Zuge der Erkundung Ihres Gegenübers auf eine nicht ganz so uninteressante Mine stoßen, werden Sie abgewürgt mit einem »Ich muss los« oder »Um Viertel nach zwei habe ich meinen nächsten Termin«.
Hinzu kam, dass Fat Tony an genau den richtigen Orten mit größtem Respekt empfangen wurde. Im Gegensatz zu Nero, dessen philosophische Grübeleien, in die er von Zeit zu Zeit versank, seine soziale Präsenz faktisch ausradierten und ihn für Kellner unsichtbar machten, schlugen Tony warme, geradezu enthusiastische Reaktionen entgegen, wenn er in einem italienischen Restaurant auftauchte. Seine Ankunft löste einen Aufmarsch der gesamten Belegschaft aus; er wurde vom Eigentümer theatralisch umarmt, und sein Aufbruch nach dem Essen war eine ausgedehnte Prozedur, bei der ihn der Besitzer und manchmal auch dessen Mutter hinausbegleitete, nicht ohne ihm noch ein Geschenk wie den hausgemachten Grappa (oder irgendeine seltsame Flüssigkeit in einer Flasche ohne Etikett) in die Hand
Weitere Kostenlose Bücher