Antonias Wille
später kicherte sie nervös, und einen Augenblick danach versank sie in gedankenvolles Schweigen. Es war höchste Zeit, diesem Spiel ein Ende zu machen.
Resolut schnappte Simone nach dem Umschlag und riss ihnmit dem Zeigefinger auf. Ein paar Bögen Papier kamen zum Vorschein. Diese hielt sie Rosanna hin.
»Ich habe keine Lust, noch stundenlang wie die Maus vor der Falle dazusitzen. Entweder du liest jetzt GroÃvaters Brief, oder ich gehe!«
Mit zitternder Hand griff Rosanna danach.
»Lies!«, forderte Simone sie nochmals auf.
Rosanna begann:
»Moritzhof, am 10. November 1899
Liebe Rosanna,
wenn du diese Zeilen liest, weile ich nicht mehr auf dieser Welt, sondern wandle in den ewigen Wäldern. Oder ich schmore im Höllenfeuer â wer weià das vorher schon so genau?
Ich habe dir versprochen, für dich, meine liebe Frau, zu sorgen.
Ich habe mein Wort gehalten. Vom heutigen Tag an bist du eine reiche Frau. Dir gehört nicht nur der Moritzhof, sondern auÃerdem noch Ländereien und Wälder, die sich insgesamt auf gut achtzig Hektar belaufen.«
Simone unterbrach. »Achtzig Hektar â wie viel ist das?« Rosanna zuckte mit den Schultern. »Weià ich nicht.« Als Simone die Küche des Moritzhofes betreten hatte, war Rosanna gerade wieder einmal dabei gewesen, in ihr Tagebuch zu schreiben. Was sie dem wohl alles anvertraute, fragte sich Simone nicht zum ersten Mal. Bisher war es ihr noch nicht gelungen, einen Blick hineinzuwerfen.
Rosanna hatte das Buch sofort zur Seite gelegt, als Simone erschien. Sie war noch nicht ganz zur Tür herein gewesen, als die Freundin sie schon mit GroÃvaters Brief überfiel, den sie vom Amtsschreiber überreicht bekommen hatte.
Und jetzt dankte Simone ihrem Herrgott dafür, dass sie den Mut gefunden hatte, ihrer Mutter die Stirn zu bieten.
»Ich bin eine reiche Frau, kannst du dir das vorstellen? Alles,was ich sehe, was ich berühre, der Boden, über den ich laufe â das alles gehört mir!«, sagte Rosanna atemlos. »Der Amtsschreiber hat gesagt, mein Name steht jetzt im Katasteramt in den Unterlagen zu allen Ländereien, die Karl gehört haben.« Rosanna schaute sich so verwundert um, als habe sie die Küche mit der alten Spüle, dem ramponierten Tisch und den kleinen Fenstern noch nie zuvor gesehen. »All das ist mein. Und dazu noch ein stattlicher Betrag. Ich hatte keine Ahnung, dass Karl ein so reicher Mann war.«
Mit einer fahrigen Bewegung griff sie nach der Schnapsflasche und schenkte Simone und sich ein Glas ein.
Simone schob das Glas angewidert von sich. Rosanna trank wie ein Mann â es war höchste Zeit, dass die liederlichen Sitten hier oben ein Ende hatten! Sie räusperte sich.
»Achtzig Hektar ⦠Vielleicht sollten wir wirklich einmal aufs Katasteramt gehen und nachschauen, wie viel das ist und wie weit dein Land überhaupt reicht.«
» Dein Land â wie sich das anhört!« Rosanna kämpfte gegen einen Schluckauf an. »Wenn ich mir vorstelle, wie deine Mutter toben muss â¦Â«
»Stell es dir lieber nicht vor«, murmelte Simone.
Wie Rumpelstilzchen war sie in der Wirtschaft herumgewirbelt! »Mich hat er mit Geld abgespeist und sie bekommt den Hof!«, hatte sie geschrien. Und dass sie das Testament anfechten würde. Da konnte der Amtsschreiber ihr zehnmal sagen, dass es zwecklos war.
Das geschah der Mutter recht! Hätte sie Rosanna damals nicht aus dem Haus gejagt, wäre alles anders gekommen. Nun aber bekam jeder das, was er verdiente â seine gerechte Strafe.
Bekam den Zorn Gottes zu spüren.
Warum der GroÃvater der Mutter trotz allem so viel Geld vermacht hatte, verstand Simone nicht. Die beiden waren sich doch spinnefeind gewesen. Ihretwegen hätte die Mutter auch leer ausgehen können. Aber Simone wollte nicht respektlos sein, sondern demütig und dankbar. SchlieÃlich war jetzt allesgut. Gott hatte ihr ein Zeichen geschickt, drauÃen auf dem Weg, an jenem Tag. Als sie selbst beinahe zu Fall gekommen war.
Seit der GroÃvater tot war, fühlte sie sich so leicht, so unbeschwert! Aber Rosanna zuliebe, die schlieÃlich noch für geraume Weile die trauernde Witwe spielen musste, verbarg sie ihre Gefühle.
Einen Moment lang spielte Simone mit dem Gedanken, der Freundin zu verraten â oder wenigstens eine Andeutung darüber zu machen â, wem sie
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