Antonias Wille
war klar, durchzogen von silbernem Morgennebel, der sich in den nächsten zwei Stunden lichten würde. Dann würde sich eine fahle Sonne in die Höhe kämpfen. Es sollte ein schöner Tag werden, ohne Regen. Woher weià ich das eigentlich?, schoss es Julie durch den Kopf. Sie lächelte und inhalierte tief die berauschende Mischung aus feuchtem Laub und Waldboden. Ja, hier oben war man dem Himmel wirklich ein Stückchen näher als anderswo.
Als sie mit einem Arm voll Brennholz wieder ins Haus trat, war ihr Kopfweh verschwunden.
Sie hatte den Anfang geschafft!
Gut zweihundert Seiten Text waren auf der Festplatte ihres Laptops und auÃerdem noch einmal auf einer Diskette abgespeichert â die ersten drei Tagebücher von Rosanna und dazu Julies Geschichten. Die Arbeit langer Tage und noch längerer Nächte. Abtauchen. Einsinken. Nicht mehr wissen, wer man war, wo man war.
Rosannas Leben â und Simones natürlich auch.
Nichts anderes war mehr wichtig.
Dass ihr das »Kuckucksnest« einmal gehören sollte, dass sich dadurch für ihre Kunstschule ganz neue Möglichkeiten ergaben, dass Antonia unten im Dorf und Theo in Freiburg auf ihren »Bericht« warteten â all das kam Julie völlig unwirklich vor. Gerade so, als würde sie auf einem anderen Stern leben. Dort, wo Rosanna zu Hause war.
Gedankenverloren lieà Julie einen Teebeutel in die graue Plastiktasse plumpsen und setzte auf dem Campingkocher Teewasser auf. Dann suchte sie in ihren Vorräten vergeblich nach einer weiteren Tafel Schokolade.
Endlich sah es danach aus, als hätte sich Rosannas Leben zum Besseren gewendet. Bestimmt war sie über Karls Tod bald hinweggekommen. Es war ja keine Liebesheirat im üblichen Sinne gewesen, auch wenn sich die beiden gemocht und respektiert hatten. So unterschiedlich waren der alte Mann und die junge Frau nämlich gar nicht. Beide freiheitsliebend, beide ausgestattet mit einem Dickkopf, der Konventionen zur Nebensache werden lieÃ.
Mechanisch schraubte Julie das Glas mit der Nussnougatcreme auf und kratzte den letzten Rest für eine Scheibe Brot zusammen. Morgen würde sie dringend neue Vorräte einkaufen müssen. Auch wenn sie noch so gut vorankam â eine, eher zwei Wochen intensiver Arbeit lagen mindestens noch vor ihr.
»Arbeit â was heiÃt hier Arbeit, nennen wir es eher Besessenheit«, brummte sie vor sich hin. »Jetzt führst du schon Selbstgespräche, Julie Rilling! Pass auf, dass du nicht allzu wunderlich wirst, du Einsiedlerin!«
Sie nahm ihr Frühstück und ein Sitzkissen mit zur Bank vor dem Haus. Aus der Teetasse stiegen kleine Wölkchen auf. Julie spürte, wie sich die feuchte Morgenluft auf ihr Haar setzte. Ihr Blick verlor sich über dem Tal, das mit jedem Tag, den sie hier oben verbrachte, sein Aussehen veränderte. Ein Teil der Bäume hatte schon viel Laub verloren, die Buchen und Eichen wirkten regelrecht zerfleddert. Wie majestätisch hoben sich die Nadelbäume mit ihrem Immergrün dagegen ab!
Wie war Rosanna wohl mit der groÃen Verantwortung, die Karl ihr nach seinem Tod aufgebürdet hatte, zurechtgekommen? Rosanna hatte schlieÃlich, wie sie selbst schrieb, von nichts eine Ahnung. Trotzdem war später eine erfolgreiche Geschäftsfrau aus ihr geworden.
Kurz darauf saà Julie schon wieder an ihrem Schreibplatz. Nahm wie eine Süchtige das nächste Tagebuch in die Hand. Fuhr sich mit zitternden Fingern durchs strähnige Haar. Weiterlesen. Weitermachen â¦
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Sie blinzelte heftig und schlug dann das Buch wieder zu.
Sie musste eine Pause einlegen, so schwer es ihr auch fiel. Sie war schon viel zu tief in der ganzen Geschichte versunken. Irgendwie musste es ihr gelingen, wieder aufzutauchen und Luft zu holen.
Sie stellte die leere Teetasse in die steinerne Spüle, schnappte sich ihre Autoschlüssel und verlieà das Haus.
»Frau Fahrner geht es den Umständen entsprechend gut. Wir mussten die rechte Brust entfernen, doch das spielt in ihrem Alter sicher eine untergeordnete Rolle. Sie liegt noch auf der Intensivstation, aber wir rechnen damit, dass wir sie heute Mittag verlegen können. Ihre Tante hat ein starkes Herz. Und sie isteine Kämpfernatur, so etwas hilft natürlich auch. Allerdings stellt eine Operation in diesem Alter immer eine hohe körperliche Belastung dar â und
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