Antonias Wille
Testamentseröffnung auch auf die Idee gekommen war, ihr Anwesen abzulaufen, hatte sie bestimmt Mühe, die Grenzsteine zu finden. Es war schlieÃlich Winter und ein Teil der Steine zugeschneit.
Theo ging in die Hocke und strich mit dem Zeigefinger über das eingemeiÃelte Muster eines Grenzsteines. »Der alte Karl Moritz hat sich wirklich ziemlich viel Mühe mit diesen Dingern gemacht.«
Julie nickte. Sie hatte der Freundin zuvor erklärt, was es mit den rechteckigen, behauenen Steinen auf sich hatte. Deruntere Teil, der Fuà genannt wurde, war in der so genannten Grube im Boden verankert. In den Kopf, also den oberen Teil, hatte Karl jeweils ein groÃes M für Moritz gemeiÃelt und darüber eine stilisierte Wolke â zumindest hatte Julie die Schlangenlinien als solche ausgemacht. So konnte jeder, der des Weges kam, erkennen, um wessen Land es sich handelte. An der Art, wie der Stein in den Boden gesetzt war, vermochte man auÃerdem den weiteren Verlauf der Grundstücksgrenze zu erkennen. Die lange Seite verlief nämlich immer parallel zur Grenzlinie. Und noch einen weiteren Hinweis lieferten die Steine: In ihr »Dach« war eine Art Pfeil geschlagen, sodass man mit einem Blick erkannte, in welcher Richtung man den nächsten Grenzstein finden würde. Julie wusste dies alles aus einem Büchlein über das Brauchtum im Schwarzwald, das sie sich gleich zu Anfang in dem kleinen Souvenirladen in Rombach gekauft hatte.
Theo holte ihr Päckchen Zigaretten aus der Jacke, überlegte es sich dann aber anders.
»Eigentlich verrückt ⦠Da sprechen wir über Grenzsteine und Landbesitz! Sag mal, ist dir bewusst, dass du eine angehende GroÃgrundbesitzerin bist?«
Julie lachte. »Nun, so schön dieser Gedanke ist, so beängstigend finde ich ihn gleichzeitig.«
»Na dann frag dich mal, wie es deiner Rosanna vor hundert Jahren ergangen ist. Sicher keinen Deut anders!«
Am nächsten Morgen erwachte Julie gut erholt und voller Tatendrang. Ohne zu frühstücken fuhr sie hinunter in den Ort zum Einkaufen. Während sie sich in dem kleinen Eiscafé einen Cappuccino gönnte, lieà sie an der Theke beide Akkus ihres Laptops aufladen.
Gegen Mittag war sie wieder auf dem Moritzhof. Wie der Tag zuvor machte auch dieser Montag dem Goldenen Oktober alle Ehre. Obwohl die Sonne nicht mehr besonders hoch stand, tauchten ihre Strahlen alles in ein goldenes Licht. Kurzerhandschnappte sich Julie ihren Notizblock und das nächste von Rosannas Tagebüchern und setzte sich an den Tisch vor dem Haus.
Mit Herzklopfen, als warte sie auf einen heimlichen Liebhaber, las sie weiter.
28. Februar 1901
Gestern Nachmittag erschien Stanislaus Raatz. Er sagte, er habe sich Gedanken über meine Lage gemacht. Jetzt, da auf dem Moritzhof kein Schnaps mehr schwarz gebrannt würde, müsse ich schauen, dass ich auf andere Art und Weise zu Geld käme. Er habe mir dazu einen Vorschlag zu machen, fügte er hinzu, aber nicht zwischen Tür und Angel.
Also brachte ich Bubi ins Bett, stellte Brot und Schinken auf den Tisch und dazu eine Flasche von Karls Kirschwasser â wenigstens gibt es davon noch einen ordentlichen Vorrat hinten im Spicher. Und dann hörte ich mir an, was er zu sagen hatte.
Ich solle mir Ziegen anschaffen. Das war der grandiose Vorschlag, den er unterbreitete.
Im ersten Augenblick war ich mir nicht sicher, ob er mich auf den Arm nehmen wollte. »Ich habe doch schon zwei Ziegen, deren Milch reicht für Bubi und mich völlig aus«, antwortete ich.
Doch Stanislaus schüttelte den Kopf und begann in seiner bedächtigen Art, seine Idee weiter zu erläutern. Er und der Engländer hätten sich Gedanken gemacht, fing er an. Mein Land müsse für mich arbeiten. Wenn man die vielen Steilhänge betrachte, die zum Moritzhof gehören, habe eine Ziegenhaltung gegenüber einer Milchkuhhaltung erhebliche Vorteile: Die Tiere würden die Hänge von nachwachsendem Dickicht befreien, sie seien genügsam, und aus der Milch könnte man wunderbaren Käse herstellen.
Mein Argument, dass ich zwar im »Fuchsen« schon bei der Käseherstellung geholfen, aber noch nie allein Käse gemacht hatte, lieà er nicht gelten. Für alles sei gesorgt, sagte er, er und der Engländer würden nicht nur eine gesunde Herde von gut vierzig Ziegen für mich ausfindig machen, sondern sie würden mir
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