Antonias Wille
Stifte und etwas metallisch Schepperndes fielen auf den Boden. Ohne sich darum zu kümmern,griff er nach Rosannas Händen, bevor sie es hätte verhindern können.
Ihre Gesichter waren einige Handbreit voneinander entfernt. Doch sein Blick hatte etwas so Magisches, dass es Rosanna vorkam, als stünden sie näher beieinander, als es tatsächlich der Fall war. Ihr Herz klopfte wie nach einem schnellen Marsch. Sie hatte Angst, dass er es hören konnte.
Er roch nach in der Sonne getrockneter Wäsche, nach Kampfer und einem Hauch Duftwasser. Und sie starrte ihn schon wieder unverhohlen an! Was musste der Mann nur von ihr denken? Ihr Blick flatterte, suchte einen Fluchtweg, fand ihn unten auf dem Boden.
Sein linkes Bein ist kürzer als das rechte, stellte sie überrascht fest. Und ich kenne noch nicht einmal seinen Namen.
Der Mann lächelte. »Ich brauche keinen Tee. Und auch sonst nichts. Aber ⦠können Sie mir nicht noch ein Weilchen Gesellschaft leisten?«
19. Juni 1919
Es ist nach Mitternacht, ein neuer Tag hat begonnen. Durchs Fenster zwinkert ein müder Mond. Und soeben hat Simone geschimpft, ich solle endlich zu Bett gehen. Aber ich weiÃ, dass ich keine Ruhe finden kann, bevor ich nicht meine Gedanken geordnet habe. Die Frage ist nur, ob das überhaupt gelingen wird â¦
Gestern war ich noch so froh, endlich wieder hier zu sein, und nun ist mein Herz schwer. Ich habe mich zum ersten Mal richtig mit einem Gast angelegt. Helmut Fahrner heiÃt er.
Dabei fing alles so harmlos an ⦠Er tat mir Leid, wie er so dasaà mit seinen tränenden Augen und seiner Triefnase. Und das bei schönstem Sonnenschein, wo sich alle anderen Gäste drauÃen tummelten. Also setzte ich mich zu ihm, damit er nicht so allein war.
Ich zeigte auf den Berg von Zeichnungen und Skizzen, den er inzwischen wieder vom Boden aufgehoben und auf das Tischchen neben sich gelegt hatte, und fragte ihn, ob er ein Maler sei.
Nein, er sei ein Schildermaler, antwortete er mir.
Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas noch gibt! Ich hatte angenommen, dass alle Uhrenschilder heutzutage nur noch mit Abziehbildern von Apfelrosen oder Früchtekörben beklebt werden. In der Massenproduktion sei das tatsächlich der Fall, erklärte Herr Fahrner mir, aber exklusive Uhren würden auch heute noch von Hand bemalt. Er selbst verziere Uhrenschilder nicht nur mit den klassischen Motiven, sondern ganz nach den Wünschen des Käufers. Dann zeigte er mir ein paar Entwürfe, an denen er gerade arbeitet. Ich war beeindruckt. Ganze Stadtansichten bringt er aufs Zifferblatt. Oder Landschaften, gestochen scharf. Aber auch verrückte Dinge, von denen kein Mensch glauben würde, dass sie auf eine Uhr gehören: zum Beispiel einen Metzger, der gerade ein Schwein schlachtet! Oder einen Hochzeitszug. Für einenPferdezüchter soll er dessen Lieblingshengst verewigen. Fahrners Entwurf sieht vor, dass die lange Pferdemähne an den Ziffern vorbeiflieÃt. Einfach zauberhaft! Das sagte ich ihm auch. Es sei nicht mit den Uhren zu vergleichen, die der Rombacher Händler mir ins Haus gehängt habe, fügte ich hinzu.
Und dann ging es los ⦠Er fühlte sich offenbar nicht zu elend, um mich wegen der Uhren zu tadeln, die in der Empfangshalle zum Verkauf aushängen. Solche Massenprodukte, fabriziert zu Billigstpreisen, seien schuld daran, dass die Kleinmeister unter den Uhrenmachern nicht mehr existieren konnten. Firmen wie Altpeter mit ihren »amerikanischen Methoden« hätten ein altes, ehrenwertes Handwerk zu reinem Kommerz verkommen lassen, hätten abertausende von Uhrmachern ihrer Existenzgrundlage beraubt â die Werkstatt seines Vaters nicht ausgenommen. Der käme nur noch mit Ach und Krach über die Runden. Und wofür das alles? Dafür, dass sich jetzt jeder Hinz und Kunz eine Schwarzwalduhr leisten konnte!
Ich war so wütend! Wie er es wagen könne, meine Gäste Hinz und Kunz zu nennen, fuhr ich ihn an. Da opferte ich meine Zeit, um ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten, und diesem ungehobelten Kerl fiel nichts anderes ein, als mich und meine Gäste zu beschimpfen. Ich erwiderte, dass ich nichts Schlimmes daran fände, Uhren so günstig anzubieten. SchlieÃlich würde jeder noch etwas daran verdienen, und das galt doch sicherlich auch für die Leute, die die Uhren herstellten.
Von wegen, hielt Fahrner mir vor. Das seien
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