Antonio im Wunderland
am Esstisch
und sagt: «Jaa, so is’ dat» oder auch «Wat will’se ma-
chen? Kansse nix machen». Antonio wollte Benno so-
gar früher in den Urlaub mitnehmen, aber das war
selbst den Kindern zu viel. Sie drohten, lieber ins ka-
tholische Ferienlager zu gehen, als mit Benno in Italien
am Esstisch zu sitzen.
Mit Benno geht Antonio zum Angeln und zum Fuß-
ball, zu KFC Uerdingen, einem Verein, dessen Glanzta-
ten aus den achtziger Jahren immer wieder Anlass zur
Freude geben. Benno hört ihm zu, jedenfalls behauptet
Antonio dies. Es ist eine tiefe Verbundenheit zwischen
den beiden, und die dauert schon sehr lange.
Benno und Antonio kennen sich vom Krefelder
Hauptbahnhof, wo Antonio früher, als die Kinder noch
klein waren, immer hinging, um andere Italiener zu
treffen. Manchmal nahm Antonio seine kleinen Töch-
ter mit, und sie spielten mit anderen italienischen Kin-
dern. Der Hauptbahnhof war damals für die italieni-
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schen Gastarbeiter Marktplatz, Nachrichtenbörse und
Treffpunkt für ausgedehnte Plaudereien. Immer fand
sich jemand, der in die Heimat fuhr und etwas mit-
nehmen konnte oder aus der Heimat kam und etwas
mitbrachte. Wie Ameisen trugen sie Schinken, Käse
oder Küchenstühle nach Deutschland, oder sie nahmen
Post, Geld oder Schnürsenkel mit auf die Reise.
Der Hauptbahnhof war spannend für die Kinder und
überlebensnotwendig für Antonio, ein Paralleluniver-
sum, dessen Existenz und perfekte Konstruktion die
deutschen Nachbarn und Kollegen nicht einmal erahn-
ten. Unter jenen, die dort herumstanden und auf
Gleichgesinnte warteten, mit denen man Kaffee trinken
oder Karten spielen konnte, war bald auch ein Deut-
scher, nämlich Benno Tiggelkamp. Er war gerne bei
den Italienern, unter denen er nur insofern auffiel, als
er kein Wort Italienisch sprach. Aber er fühlte sich als
einer von ihnen, weil er definitiv keiner der anderen
war. Kein Deutscher merkte, wenn Benno mal nicht zur
Arbeit kam, und niemand konnte sich daran erinnern,
wenn er da war. Er hatte keine Frau, kein Auto und kei-
ne Pläne, nur eine Mutter, mit der er zusammenlebte.
Er machte kein Aufhebens um sich, er stand immer nur
neben dem Leben und schaute ihm zu. Und weil ihn die
Deutschen aussortiert hatten und niemand mit dem
sonderlichen Kerl etwas zu tun haben wollte, landete er
schließlich am Bahnhof, wo er zunächst wochenlang
den Italienern beim Spielen zusah, bis sie ihn endlich
aufnahmen in ihre Gemeinschaft der Geduldeten.
Nach ein paar Jahren veränderte sich die Bahnhofs-
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szene, und Antonio ging dort nicht mehr hin. Es waren
nun auch andere Ausländer dort, und die gefielen ihm
nicht. Auch wollten seine Kinder nicht mehr mit. Sie
gingen nun zur Schule, und Antonio hatte sie einmal
dabei, als Lorellas Klassenlehrer mitten in die italieni-
schen Arbeiter hineinstolperte. Das war ihr peinlich,
und sie schämte sich für ihren Vater mit seiner dicken
Winteranzugjacke, die er auch im Juni trug.
Antonio beschloss, seine Freunde nicht mehr am
Bahnhof zu treffen, tatsächlich traf er sie überhaupt
nicht mehr. Nur Benno blieb ihm. Nachdem Antonio
ihn einmal eingeladen hatte und er daraufhin sechs
Stunden schweigend im Wohnzimmer sitzend dem
Familienleben der Marcipanes beigewohnt hatte, kam
er immer wieder. Man gewöhnte sich an ihn, wie man
sich an Katzen aus der Nachbarschaft gewöhnt, die
immer mal vorbeikommen und sich füttern lassen.
Benno ließ sich ebenfalls füttern. Manchmal machte
er sich nützlich und half beim Tapezieren oder wechselte Glühbirnen aus, an die Ursula nicht herankam. Er
erwartete dafür keinen Dank. Meistens saß er nur auf
einem Stuhl und wartete darauf, wieder nach Hause zu
gehen. Er lud nie jemanden zu sich ein. Auch seine
Mutter, die immer noch lebt und ihn manchmal anruft,
damit er nach Hause kommt, hat noch nie jemand aus
der Familie Marcipane zu Gesicht bekommen.
Ursula akzeptierte Benno bald als Teil ihrer Ehe mit
Antonio, verbat sich aber die Besuche des Freundes an
Feiertagen und setzte durch, dass dieser anrief, bevor er
auftauchte, woran er sich auch meistens hielt. Lorella
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und Sara mochten Benno und verteidigten ihn, so gut
sie konnten, vor den Hänseleien der Nachbarskinder,
die mit Tennisbällen nach ihm warfen oder die Luft aus
seinen Fahrradreifen ließen, wenn er Antonio besuch-
te. Als Sara zu Hause auszog, war es Benno, der tränen-
übertrömt im Garagenhof stand und ihr hinterher-
winkte. Ihr
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