Antonio im Wunderland
ist, wie ich es aus dem Kino kenne. So will ich es haben, so macht es mir keine Angst. Ich verbringe den
Mittag damit, ins Museum zu gehen und dabei zuzuse-
hen, wie die Eisbahn vor dem Rockefeller Center präpa-
riert wird. Nächste Woche ist Thanksgiving, dann wird
die Stadt voll sein wie ein Ameisenhaufen. Dann werden
sich Millionen Menschen die Parade ansehen, und noch
mehr Millionen Puten müssen ihr Leben lassen.
Im Fernsehen werden schon alle Arten von Schnell-
kochtöpfen, Grillapparaturen und Bratenthermometer
angepriesen. Ich habe das heute Morgen gesehen. Ge-
rade als ich den Fernseher ausschaltete, um zum Früh-
stück zu gehen, betrat eine Reinigungskraft das Zim-
mer. Ich gab ihr zwei Dollarscheine und wünschte ihr
zu Thanksgiving einen «real fat turk». Sie sah mich an
wie einen nackten Fliesenleger und bedankte sich.
Beim Hinuntergehen fragte ich mich, was ich der Frau
getan hatte.
Jetzt, da ich auf einer Bank vor dem Rockefeller Cen-
ter sitzend unter den missbilligenden Blicken einiger
New Yorker Mütter und deren halbwüchsiger Töchter
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eine schöne Zigarette rauche, fällt es mir ein. Ich habe
der Frau einen richtig fetten Türken gewünscht und
auch noch Geld zu dessen Anschaffung beigesteuert.
Truthahn hätte «turkey» geheißen. Was soll’s? Mein
Englisch ist ansonsten sehr passabel. Ich komme damit
eigentlich überall klar, außer in Italien.
Nach dem Lunch, den ich zwischen einem Rudel von
Geschäftsleuten auf der Madison Avenue einnehme,
spaziere ich durch den Trump Tower und gehe in die
Oak Room Bar des Plaza Hotels, um meiner Kreditkarte
den Rest zu geben.
Mein Reiseführer rät mir zu einem Besuch des Kauf-
hauses Macy’s, weil es dort die meisten Jeans der Welt
gibt. Aber ich fahre lieber nach Greenwich Village, von
wo ich nach SoHo und Tribeca marschiere, ziellos, aber
glücklich. Ich gebe hier und da Geld aus, kaufe Mit-
bringsel, trinke einen Tee.
Und doch denke ich irgendwie ständig an Antonio
und Benno. Nicht nur, weil ich fürchte, es könnte ih-
nen – oder jemand anderem wegen ihnen – etwas pas-
siert sein. Sie fehlen mir auch. Als Begleiter, als Kum-
pane, als Expeditionsteam. Ich mag ihren Blick auf die
Dinge. Es ist schön, wenn Benno stehen bleibt und die
Feuerleitern fotografiert. Er hat ganz sicher schon
zwanzig Feuerleiterfotos gemacht. Ich sehe auf meine
gefälschte Uhr, die ich in der Innentasche meiner Jacke
mitführe. Sie passt mir immer noch nicht. Im Hotel
habe ich mit Werkzeug aus meinem Nageletui ver-
sucht, das Band zu verkürzen, aber es hat nicht funkti-
oniert.
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Es ist bereits dunkel, bald Zeit für unsere Verabre-
dung. Ich stelle fest, dass der Sekundenzeiger bei jeder
Umrundung zwei bis drei Sekunden braucht, um an
dem Minutenzeiger vorbeizukommen. Der ist offenbar
verbogen. Das bedeutet aber auch, dass die Uhr nach-
geht, eine halbe Minute pro Stunde. Ich habe das Ding
gestern Abend gestellt, seitdem sind knapp 24 Stunden
vergangen. Diese billige Fälschung wird inzwischen
ordentlich hinterherhinken, besonders wenn auch
noch die Minuten- und Stundenzeiger klemmen. Ich
erkundige mich bei einer studentischen Hilfskraft in
einem schicken Computershop in SoHo nach der Uhr-
zeit. Wahrscheinlich ist der Junge gar kein Student,
sondern Milliardär, das weiß man ja hier nie so richtig.
Jedenfalls sagt er mir, dass es kurz vor acht sei. Meine
Canal-Street-Uhr sagt Viertel vor sieben.
Au Backe, wir sind um acht Uhr im Restaurant verab-
redet. Ich hatte mir fest vorgenommen, mindestens
zehn Minuten vorher da zu sein, damit sich Antonio
keine Gedanken macht. Ich sehe in den Stadtplan und
suche mir den Weg zusammen. Wenn ich mich sehr
beeile, kann ich das in zwanzig Minuten schaffen. Ich
laufe los und schmeiße die Uhr unterwegs in einen Ab-
fallkorb.
Im Restaurant angekommen, bin ich schweißüber-
strömt. Ich lasse mich von einem Mädchen, das kurz
vor einer Karriere als Supermodel steht, an unseren
Tisch bringen, und da sitzen sie bereits: Antonio Mar-
cipane und Benno Tiggelkamp, umringt von allerlei
Einkäufen. Ich setze mich, und Antonio sagt, dass er
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sehr erfreut sei, mich zu sehen, und dass er sich die
ganze Zeit Sorgen um mich gemacht habe, weil ich
immer so verkrampft sei im Ausland. Da kann sogar
etwas dran sein.
Der Kellner, ein schwarzer Hüne mit Glatze, kommt
an unseren Tisch, und Antonio lässt es sich mal wieder
nicht nehmen, ihn zu fragen, ob
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