Antonio im Wunderland
Winz-
wanne. Man kann nur mit angezogenen Knien darin
sitzen. Körperpflege ist in diesem Land wirklich eine
große Herausforderung. Gegen 20 Uhr verlasse ich das
Hotel und mache mich auf die Suche nach etwas, wo
keine italienischen Rentner und inkontinenten Rhein-
länder sitzen. Schließlich lande ich in einem Lokal, das
so duster ist, dass ich meine Füße nicht sehen kann.
Ich setze mich an die Bar und mache nicht den Fehler,
Budweiser 1 zu bestellen. Ich nippe an meinem Bier, 1 Bierkenner wissen: Das amerikanische Budweiser hat leider überhaupt nichts zu tun mit dem köstlichen tschechischen Budweiser.
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und so langsam schwingt der Gong der letzten Tage in
meinem Kopf aus, ich komme zur Ruhe, bestelle noch
eine Flasche. Was habe ich bisher von dieser Reise ge-
habt? Nicht viel, eigentlich nur Ärger. Es kommt mir so
vor, als würde ich den ganzen Tag meine beiden alten
Herren vor dieser Stadt beschützen. Aber Reisen ist ei-
gentlich anders gemeint, ich mache wahrscheinlich et-
was falsch. Aber was nur? Soll ich die beiden einfach
sich selbst überlassen? Womöglich wäre das für Anto-
nio und Benno gar nicht so schlimm. Sie müssten mir
dann nicht immer wie zwei gepäcklose Sherpas hinter-
herlaufen. Sie könnten sich mit Pino verabreden und
mit ihm zum Baseball gehen – und ich endlich in die
Museen, die mich interessieren.
Ich wüsste genau, was ich machen würde, wenn ich
mit Sara hier wäre. Wir würden zum Beispiel ins Kauf-
haus Bergdorf Goodman gehen, einem Geschäft, in
dessen Schuhabteilung meine Frau gerne nach ihrem
Tod mit ihrer Urne einziehen würde, denn wohler fühlt
sie sich wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt. Wir
würden in Greenwich Village ausgehen und in SoHo,
den Botanischen Garten in Brooklyn besuchen. Anto-
nio und mich hält hier nur der familiäre Kitt zusam-
men. Sonst gäbe es für uns keinen Grund, gemeinsam
zu reisen. Ich trinke aus und gehe.
Auf dem Rückweg zum Hotel komme ich an einem
Deli vorbei, in dem es laut zugeht. Jemand ruft etwas
auf Italienisch, ein anderer schreit auf Englisch zurück.
Das mag ich an New York. Diese aufregende Internati-
onalität. Ich habe schon eine große Bewunderung da-
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für, wie hier alle Nationen der Welt versuchen, ihren
Weg zu machen. In diesem Deli zum Beispiel pulsiert
das Leben, da ist Spannung, metropolische Action. Ich
sehe durch die Scheibe und erkenne – Antonio.
Mit einem Satz bin ich im Laden und analysiere die Si-
tuation. Benno steht vor der Kasse und hat einen Frisch-
käsebagel in der einen und eine Flasche Bier in der ande-
ren Hand. Sein Gesicht spiegelt wie immer diese Tiggel-
kamp’sche Mixtur aus Überparteilichkeit und Neugier
wider. Antonio hingegen argumentiert gestenreich und
lautstark mit einem Angestellten des Deli, einem jungen
Burschen, vermutlich aus Mexiko. Und in diesem Mo-
ment treffe ich eine Entscheidung, auf die ich für den
Rest meines Lebens stolz sein werde: Ich drehe mich um
und gehe wieder hinaus. Antonio hat mich ohnehin
nicht gesehen. Zunächst noch schuldbewusst, dann
immer flotteren Schrittes und am Ende beschwingt, lau-
fe ich ins Hotel, lege mich mit einem letzten Bier aufs
Bett und zappe durch das Fernsehprogramm.
In Wisconsin hat ein asiatischer Einwanderer fünf
Jäger erschossen. Die Männer hatten ihn beim Wildern
erwischt. Es heißt, er sei ein unauffälliger Bürger ge-
wesen, und dass es in der Gegend immer wieder mal
Probleme zwischen neuamerikanischen und urameri-
kanischen Jägern gebe. In Texas fällt so viel Regen wie
noch nie, und bei einem Basketballspiel prügelten sich
die Spieler mit den Zuschauern. Den Haupttäter unter
den Profis kostet der Spaß nun wegen der Verhängung
einer gewaltigen Spielsperre fünf Millionen Dollar,
denn er wird nur bezahlt, wenn er antritt. So ist Ameri-
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ka: Wenn einer tötet, dann gleich fünfmal; wenn es
regnet, ist Apokalypse; wenn ein Sportstar prügelt, kos-
tet es ihn einen schon kindlich-gigantischen Betrag.
Klein geht nicht, klein ist immer gleich Old Europe.
Am nächsten Morgen beim Frühstück fällt mir die
Deli-Sache wieder ein. Ich spreche Antonio darauf an.
«Toni, alles klar?»
«Tutto bene, liebe Jung.»
Von selber wird er mit der Geschichte natürlich nicht
rausrücken. Ich muss schwindeln, damit ich davon er-
fahre.
«Ich habe gestern Abend nochmal bei dir angerufen,
aber du warst nicht da. Seid ihr noch ausgegangen?»
«Komisch, habe
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