Anubis 02 - Horus
Lärm und die Aufregung angelockt hatten, ein paar übrig gebliebene Zecher oder Freier aus den nahe gelegenen Etablissements und die üblichen Gaffer, die aus den umliegenden Häusern herbeigeeilt waren … es gab anscheinend nichts, was Menschen mehr erschreckte und zugleich anzog als Gewalt und Tod; vorausgesetzt, sie stießen anderen zu.
Was sie nicht sah, war die unheimliche Gestalt von gerade. Wären die Umstände nur ein bisschen anders gewesen, hätte sich Bast möglicherweise eingestanden, einer simplen Täuschung erlegen zu sein. Auch ihre Sinne waren nicht unfehlbar, und sie hatte wahrlich jeden Grund, nervös zu sein. Sie räumte sogar die Möglichkeit ein, sich tatsächlich getäuscht und in Wahrheit einen Menschen gesehen zu haben, statt eines riesigen Falken; einen Mann in einem schwarzen Mantel und mit Turban und Schwert, aber auch von einem solchen war keine Spur zu sehen.
Bast blieb stehen und lauschte mit allen Sinnen und so konzentriert, wie sie nur konnte, doch alles, was sie empfing, war eine nervöse Mischung aus Entsetzen und morbider Faszination, nur hier und da vielleicht eine Spur von echtem Mitgefühl oder Trauer, aber nicht das, worauf sie wartete.
Das bedeutete nichts. Noch vor wenigen Tagen hätte sie über die bloße Vorstellung gelacht, aber Horus hatte ihr bewiesen, dass er unmittelbar vor ihr stehen konnte, ohne dass sie imstande war, hinter seine Maske zu blicken. Sie wusste einfach, dass er da war.
»Miss?«
Bast war so sehr in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie den Bobby nicht einmal bemerkt hatte, der sich ihr von hinten genähert hatte. Und es verging noch eine weitere, geschlagene Sekunde, bis sie ihn erkannte.
»Oh, hallo, Konstabler … Stowe?« Der Bobby nickte, und Bast fuhr mit einem perfekt geschauspielerten nervösen Lächeln fort: »Es tut mir leid, Konstabler, aber ich fürchte, ich habe meine Papiere noch immer nicht …«
»Darum geht es nicht, Ma’am«, unterbrach Stowe sie höflich, aber entschieden. »Wenn Sie mich freundlicherweise begleiten würden?«
»Begleiten? Wohin?« Für einen Moment überkam sie beinahe so etwas wie Panik. Was um Ras willen wollte Stowe von ihr? Woher wusste sie überhaupt, dass er Stowe war? Was, wenn …
»Der Inspektor würde Sie gerne sprechen, Ma’am«, antwortete er. Gleichzeitig machte er eine Handbewegung hinter sich, von der Bast nicht sagen konnte, ob sie nun einfach erklärend war oder sich ein Befehl dahinter verbarg. So oder so deutete er auf Abberline, der nur ein kleines Stück entfernt dastand und sich gerade über etwas beugte, das mit einem weißen Tuch abgedeckt war. Es hätte der hässlichen, dunkelbraun eingetrockneten Flecken darauf nicht bedurft, um Bast zu sagen, was sich darunter verbarg.
»Inspektor Abberline?«, erkundigte sie sich überflüssigerweise – und aus keinem anderen Grund als dem, Zeit zu gewinnen. Ihre Gedanken rasten. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht so, wie es zu sein vorgab. Sie wusste nicht, was, aber eines wusste sie mit jeder Sekunde mehr: Sie sollte nicht hier sein.
»Ich fürchte, er wird darauf bestehen, Ma’am«, antwortete Stowe. »Also kommen Sie bitte mit!«
Bast fragte sich flüchtig, was er wohl tun würde, wenn sie sich weigerte, mit ihm zu kommen, dachte diesen Gedanken aber vorsichtshalber nicht zu Ende. Weder Stowe noch sein Dutzend Kollegen stellten irgendeine Bedrohung für sie dar – nicht mehr, wo ihre Schwäche überwunden und sie nahezu im Vollbesitz ihrer Kräfte war –, aber sie war nicht hierhergekommen, um einen Kleinkrieg mit ihm und der kompletten Londoner Polizei zu beginnen … und außerdem war sie schlicht und einfach neugierig, was Abberline von ihr wollte. Sie wartete vielleicht noch einen Atemzug länger, als gut war, aber dann nickte sie. »Ganz wie Sie wünschen, Konstabler.«
Stowe starrte eine Sekunde lang verständnislos auf die Hand, die sie ihm hinhielt, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich um, um vorauszugehen. Bast fragte sich, ob er das genaue Gegenteil eines typischen englischen Gentlemans war oder schlichtweg Angst hatte, sie zu berühren. Zu seinen Gunsten nahm sie Letzteres an.
Immerhin sorgte die Autorität seiner Uniform dafür, dass die Gaffer ihnen Platz machten. Die Vorstellung, einen von ihnen auch nur zu berühren, wäre ihr im Moment schon beinahe unerträglich gewesen.
Abberline richtete sich ächzend auf, als sie näher kamen, und drehte sich mit einer
Weitere Kostenlose Bücher