Anubis 02 - Horus
Geruch von Gewalt und Angst und Tod – und großer Furcht. Nichts von alledem war den Menschen in diesem Viertel fremd. Gewalt und Angst und auch der Tod gehörten zu ihrem Leben wie die täglichen Mahlzeiten und die allabendlichen Alkoholexzesse und die käufliche Liebe. Aber das hier war … anders.
Etwas regte sich, tief in ihr. Bast lauschte einen Moment in sich hinein und dachte einen noch kürzeren Moment ganz ernsthaft daran, kehrtzumachen und in die Pension zurückzukehren oder doch zumindest diese Straße und die Menschenansammlung hinter der nächsten Biegung zu meiden. Die Nähe so vieler Menschen mit ihrer Furcht und Gier und vor allem der intensive Blutgeruch begannen das Ungeheuer bereits wieder aus seinem Schlummer zu erwecken. Es regte sich, es begann zu erwachen, und Bast war ganz und gar nicht sicher, dass es ihr noch ein weiteres Mal gelingen würde, es wieder in seinen Käfig zu sperren.
Oder ob sie das überhaupt wollte.
Statt auf ihre innere Stimme zu hören, straffte sie die Schultern, ging weiter und bog mit festen Schritten in die Straße ein, an deren anderen Ende das Ten Bells lag; und ein Stück davor Maudes modernes Sklavenhaus. Sie war ein wenig überrascht – ohne es zu merken, hatte sie offensichtlich einen großen Bogen geschlagen und kam nun aus der entgegengesetzten Richtung, was eine Menge über ihren Orientierungssinn und damit über ihren Allgemeinzustand aussagte, aber der Gedanke entglitt ihr auch fast augenblicklich wieder, als sie die Menschenmenge sah, die nur ein paar Schritte vor ihr auf der rechten Straßenseite zusammengelaufen war. Der größte Teil davon bestand aus demselben Publikum, das sie schon aus der vergangenen Nacht kannte, Männer und Frauen, die hier wohnten oder arbeiteten oder auch anderen, zweifelhaften Beschäftigungen nachgingen, und es schienen auch etliche übrig gebliebene Zecher darunter zu sein, obwohl die Kneipen schon seit Stunden geschlossen hatten, und sicher auch der eine oder andere Neugierige, den der Aufruhr hergetrieben hatte. Mit alledem hatte sie gerechnet – aber sie sah auch eine überraschend große Anzahl uniformierter Polizisten – mindestens ein Dutzend – und gleich vier oder fünf Droschken, von denen zwei quer zur Fahrbahn abgestellt worden waren, dass ein Durchkommen so gut wie unmöglich war; jedenfalls nicht, ohne von einem der Bobbys bemerkt zu werden, die die Straße und jeden, der kam oder ging, im Auge behielten.
Aus ihrem unguten Gefühl wurde Gewissheit. Was immer hier passiert war, schien weit über das normale Maß an Gewalttätigkeiten und Mord hinauszugehen, an das die Menschen hier gewöhnt waren. Sie spürte Neugier und Sensationslust und genau jene erleichterte Schadenfreude, die sie erwartet hatte, aber da waren auch Furcht und ein tief sitzendes, nagendes Erschrecken, das beinahe jedermann hier ergriffen hatte. Nahrung für ihre dunkle Schwester.
Da es zu spät war, um umzukehren, ohne damit noch mehr Aufsehen zu erregen, ignorierte sie den bohrenden Blick des ihr am nächsten stehenden Bobbys und steuerte die schmale Lücke zwischen den beiden quer gestellten Droschken an, während sie zugleich versuchte, einen Blick über die Köpfe der Gaffer hinweg zu erhaschen. Allzu viel konnte sie nicht erkennen; gerade, dass ein ausgestreckter regloser Körper auf dem Boden lag, und dass es offensichtlich eine Frau war. Aber der Blutgeruch wurde für einen Moment so stark, dass sie es kaum noch ertrug. Wenn sie nicht bald Nahrung fand, würde das Ungeheuer schlichtweg seine Ketten zerreißen und sie überwältigen.
»Sir?«
Bast war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie fast gegen den Bobby geprallt wäre, der ihr unversehens den Weg vertrat. Erschrocken prallte sie einen halben Schritt zurück, und ihr Gegenüber wirkte für den Moment mindestens ebenso verwirrt wie sie, denn er blinzelte ein paar Mal und schien im allerersten Moment nicht zu wissen, was er sagen sollte.
»Ahm … Misses?«
»Miss«, verbesserte ihn Bast und fing sich wieder. »Was kann ich für Sie tun, Konstabler?«
»Miss, gut.« Der Mann schien sich endlich daran zu erinnern, was für eine Uniform er trug, und straffte nicht nur die Schultern, sondern bemühte sich auch, einen möglichst offiziellen Ausdruck auf sein Gesicht zu zwingen, wenn auch mit mäßigem Erfolg.
Wahrscheinlich war es nur ihr ungewöhnliches Äußeres, das ihn irritierte, denn Bast spürte auch, dass er im Grunde seines Herzens ein gutmütiger Mensch
Weitere Kostenlose Bücher