Anubis 02 - Horus
sollen.
Vielleicht für die Dauer eines halben Atemzuges erschien so etwas wie Schrecken in Mrs Walshs Augen, dann wurden sie leer. »Vergessen Sie alles, Gloria«, sagte Bast sanft. »Und Sie ebenfalls, Jacob. Vergessen Sie dieses Gespräch, ebenso wie«, sie deutete auf den Kamin und das schon nahezu vollkommen verbrannte Kleid, »das da. Vergessen Sie alles, was Sie heute Abend gesehen haben. Vergessen Sie, was ich Ihnen über mich und meinesgleichen erzählt habe. Und tun Sie diese Nacht nichts anderes als das, was Sie immer tun – oder immer schon tun wollten. Und jetzt wachen Sie auf!«
Mrs Wash schüttelte irritiert den Kopf und sah sie aus nun wachen, aber verständnislosen Augen an. Sie warf einen Blick auf Maistowe, der in seinem Sessel saß, als wäre er nur kurz eingenickt und hätte Mühe, wieder zu sich zu kommen.
»Ich … ich glaube, Sie sollten zu Bett gehen, Jacob«, sagte sie, nahm ihm mit einem missbilligenden Stirnrunzeln den Zigarillo aus der Hand und schnippte ihn in die Flammen. »Wir alle sollten zu Bett gehen. Ich räume das hier weg.«
Genau das tat sie, nahm das benutzte Geschirr, stapelte es zusammen und trug es in die Küche.
Bast überlegte einen Augenblick lang, ob sie ihr vielleicht helfen sollte, entschied sich dann aber doch dagegen. Besser, alles so zu lassen, wie es immer war – das Abspülen und Entsorgen der Reste sollte sie doch lieber Mrs Walsh überlassen. Sie gähnte und streckte sich katzenhaft.
»Gute Nacht«, sagte sie zu niemandem Bestimmten, bevor sie sich daranmachte, die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufzusteigen.
»Gute Nacht«, hörte sie Maistowe noch sagen. »Schlafen Sie gut.«
Aber an Schlaf war nicht zu denken. Zu viel war heute geschehen, und viel von dem Geschehenen hatte sie noch nicht verarbeitet. Sie legte sich angekleidet auf ihr Bett und starrte gegen die Decke. Irgendwie hatte sie das Gefühl, nach den Ereignissen des heutigen Tages mit mehr Glück als Verstand noch einmal davongekommen zu sein. Sie begann Fehler zu machen, und das störte sie am meisten, Fehler, die ihr früher nicht unterlaufen wären, und sie hatte ihre verbliebenen Kräfte dazu einsetzen müssen, diese Fehler auszubügeln, anstatt dazu, bei dem, weshalb sie überhaupt hierhergekommen war, irgendwelche Fortschritte zu erzielen.
Sie lauschte mit ihren Sinnen in die Stille des Hauses hinein. Mrs Walsh hatte aufgehört, in der Küche zu werkeln, und sie konnte sie überhaupt nicht mehr spüren, als wäre sie gar nicht im Haus. Vielleicht schlief sie wirklich den Schlaf der Gerechten. Maistowe dagegen hörte sie in seinem Zimmer rumoren; er schien einen unregelmäßigen Schlaf zu haben, denn hin und wieder quietschten seine Bettfedern.
Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie brauchte Antworten, und morgen mochte es bereits zu spät sein. Sie stand auf, nahm ihren Mantel vom Haken, und nur einen Augenblick später öffnete sie das Fenster, schlüpfte hinaus und verschwand so lautlos wie ein Schatten in der Nacht.
Mitternacht war längst vorüber, es musste auf eins zugehen, als sie Whitechapel erreichte. Sie hatte sich nicht sonderlich beeilt und zu allem Überfluss unterwegs auch noch zwei- oder dreimal die falsche Abzweigung genommen – irgendwie sahen die Straßen hier alle gleich aus, und gestern Nacht war sie einfach zu aufgeregt gewesen, um auf den Weg zu achten –, und sie erlebte eine weitere Überraschung, kurz bevor sie die Straße erreichte, in der das Ten Bells lag: In einem Land, in dem die Gasthäuser und Pubs um zehn schlossen, hatte sie erwartet, das Viertel still und schlafend vorzufinden, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Schon von Weitem sah sie Licht – den flackernden roten Schein von Fackeln, aber auch das ruhigere gelbe Licht von Petroleumlampen und die unruhig umhersuchenden bleichen Finger der Karbidlaternen, mit denen die Londoner Bobbys ausgerüstet waren – und hörte Stimmen, und noch bevor sie in die Straße einbog, roch sie Blut.
Für einen Moment hielt sie inne, schloss die Augen und ließ all ihre Sinne aufmerksam umhertasten. Da waren Furcht und Erregung, Sensationslust und pure Neugier und Angst und Zorn, alles was sie von der Menschenmenge erwartet hatte, die ganz offensichtlich hinter der nächsten Straßenbiegung zusammengelaufen war, aber auch noch mehr. Der Geruch nach Blut – menschlichem Blut – war stärker geworden, und darunter erspürte sie nun noch etwas, das allen anderen hier verborgen bleiben musste: den
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