Anubis - Roman
ein Stück nach oben, wie eine Wurstpelle, die man nach dem Kochen abzieht, und darunter kam etwas Weißes, Wimmelndes zum Vorschein, wie Bündel glänzender, ineinander gedrehter, pulsierender Nervenfäden.
Bevor Mogens genauer hinsehen konnte, verschwand Graves’ Hand in der Tiefe, und er war allein.
Sein Herz jagte. Nachdem Graves fort war, hatte er nur noch eine einzige Lampe, die eigentlich ausreichen sollte, den kleinen Raum hinlänglich zu erhellen, es aber einfach nicht tat. Die Dunkelheit stürmte aus allen Richtungen zugleich auf ihn ein und nahm ihm nicht nur die Sicht, sondern in zunehmendem Maße auch den Atem.
»Komm, Mogens!« Graves’ Stimme drang so hohl und verzerrt wie aus einem unendlich tiefen, hallenden Schacht zu ihm herauf, von den Echos zu etwas gemacht, das seiner Furcht noch zusätzliche Nahrung gab. »Tom hat Recht. Hier unten wird es leichter. Bring sein Gewehr mit!«
Mogens nahm mit spitzen Fingern die Büchse von der Wand und reichte sie Graves in die Tiefe hinab, bevor er sich ebenfalls auf Hände und Knie sinken ließ und dann rücklings in den Schacht zu klettern begann. Er rechnete damit, dass Tom oder Graves ihm halfen, wie sie es bei Miss Preussler getan hatten, aber deren Stimmen entfernten sich eher unter ihm, und eingedenk der unheimlichen, Übelkeit erregenden Geometrie dieses Schachtes, die er vorhin gesehen hatte,wagte er es nicht, nach unten zu blicken, sondern kletterte Hand über Hand und mit fest zusammengepressten Augenlidern, bis er endlich wieder festen, wenn auch leicht abschüssigen Boden unter den Füßen spürte.
»Gib Acht, Mogens«, sagte Graves’ Stimme hinter ihm. »Pass auf deinen …«
Mogens drehte sich mit immer noch geschlossenen Augen herum, richtete sich mit einem erleichterten Seufzen auf und knallte so hart mit dem Schädel gegen den Fels, dass er Sterne sah.
»… Kopf auf«, schloss Graves. Mogens war sicher, sich den schadenfrohen Unterton in seiner Stimme nicht nur einzubilden.
Stöhnend hob er die Hand an den Kopf, fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das Haar und spürte zu seiner eigenen Überraschung zwar kein Blut, dafür aber einen so heftig pochenden Schmerz, dass ihm übel wurde.
»Mach dir nichts draus«, sagte Graves fröhlich. »Das ist uns allen passiert.«
Mogens konnte nicht wirklich erkennen, was daran so komisch sein sollte, doch dann öffnete er endlich die Augen, blickte in Graves’ grinsendes Gesicht und legte dann den Kopf in den Nacken. Verblüfft riss er die Augen auf.
»Habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie ein unmöglicher Mensch sind, Doktor Graves?«, fragte Miss Preussler.
»Mehrmals, meine Liebe«, antwortete Graves. »Mehrmals.«
Mogens hörte kaum hin, denn was er sah, das war so verblüffend und unmöglich zugleich, dass er selbst den pochenden Schmerz unter seiner Schädeldecke für einen Moment einfach vergaß. Der Gang, in dem sie sich befanden, bestand aus dem gleichen glänzend schwarzen Gestein wie der Raum hinter dem Tor, und seine Decke befand sich mindestens zwei Meter über ihren Köpfen. Aber als er den Arm ausstreckte, stießen seine Finger fast unmittelbar auf harten Widerstand.
»Aber das ist doch … unmöglich«, murmelte er. Es war nicht so, dass er auf ein unsichtbares Hindernis gestoßen wäre, nein, er konnte sehen, wie seine Fingerspitzen den Fels zweiMeter über seinem Kopf berührten, obwohl er den Arm noch nicht einmal halb ausgestreckt hatte!
»Interessant?«, fragte Graves. Seine Stimme war von einem absurden Stolz erfüllt.
»Ich finde es eher erschreckend«, sagte Miss Preussler. »Mit diesem Ort stimmt etwas nicht.«
»Ich denke eher, dass mit unseren Sinnen etwas nicht stimmt«, antwortete Graves.
»Vielleicht mit den Ihren, Doktor«, versetzte Miss Preussler spitz.
»Nein, nein«, beharrte Graves. »Ich meine das ernst, meine Liebe. Mit diesem Ort ist alles in Ordnung. Ich vermute, dass unsere unzulänglichen menschlichen Sinne mit seiner Geometrie nichts anfangen können.«
»Was für ein fürchterlicher Unsinn!«, sagte Miss Preussler.
Graves schüttelte lächelnd den Kopf. »Ganz wie Sie meinen«, sagte er. »Aber bis wir eine bessere Erklärung gefunden haben, sollten wir uns dennoch darauf einigen, unseren Sinnen nicht mehr vollkommen zu vertrauen.«
Mogens folgte dem albernen Disput der beiden nur mit halbem Ohr. Gerade nach dem, was er vorhin mit eigenen Augen gesehen hatte, tendierte er stark dazu, Graves Recht zu geben. Er verstand nur nicht,
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