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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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wie Graves das Kunststück fertig brachte, etwas so ganz und gar Unvorstellbares mit einer solchen Gelassenheit auszusprechen. Zögernd hob er noch einmal den Arm und registrierte mit kein bisschen weniger Verblüffung als beim ersten Mal, wie seine Fingerspitzen gegen rauen Widerstand stießen, obwohl er keinerlei perspektivische Verzerrung oder irgendeinen anderen Hinweis auf eine optische Täuschung gleich welcher Art erkennen konnte. Es war ein zutiefst verstörender Anblick.
    »Aus diesem Grund wollt ich auch kein Seil benutzen«, sagte Tom. »Ich war nicht ganz sicher, woran ich es festbinden sollte.«
    »Also hast du dich lieber auf das verlassen, was dir dein Tastsinn verraten hat«, fügte Graves mit einem anerkennenden Nicken hinzu. »Das war sehr klug von dir, Tom.«
    Tom lächelte geschmeichelt, und auch Mogens musste die Voraussicht des Jungen anerkennen; zugleich aber war an dem, was er gesagt hatte, zwar nichts auszusetzen, aber irgendetwas, was ihn störte.
    »Gehen wir weiter«, schlug Graves vor. »Vorsichtig.«
    Er selbst ging – wortwörtlich – mit gutem Beispiel voran, denn er wandte sich zwar um und ging mit festen, ruhigen Schritten los, hielt aber die linke Hand mit dem Gewehr sichernd vor und ein Stück über dem Gesicht, die andere, die die Lampe hielt, weit nach vorne ausgestreckt, wie ein Blinder, der sich behutsam in einem ihm vollkommen unbekanntes Zimmer vorantastet. Zugleich ging er eigentlich nicht im klassischen Sinne, sondern ließ die Füße vor sich über den Boden schleifen, als misstraue er auch der Festigkeit des scheinbar massiven Felsens. Es sah einigermaßen albern aus, aber schon nach wenigen Schritten sah Mogens den Sinn dieser übertrieben erscheinenden Vorsichtsmaßnahme ein. Graves’ tastend vorgestreckte Hand prallte so unsanft gegen einen Felsvorsprung, der noch meterweit entfernt schien, dass die Lampe scheppernd hin und her schaukelte und für einen Moment zu erlöschen drohte. Nur einen Augenblick später stolperte er über eine Unebenheit im Boden, die Mogens einen Lidschlag zuvor noch nicht einmal gesehen hatte, und auch ihm und den beiden anderen erging es nicht viel besser. Trotz aller Vorsicht stießen sie sich mehrmals hart und schmerzhaft an Felsen, die sie regelrecht anzuspringen schienen, und einmal wäre Mogens fast gestürzt, als er sich auf einem Vorsprung abzustützen versuchte, der ungleich weiter entfernt war, als es aussah.
    Sie tasteten sich auf diese Weise ein gehöriges Stück weit durch den unheimlichen Gang, dann verschwand Graves plötzlich hinter einem Knick, der eigentlich noch mindestens fünfundzwanzig oder dreißig Schritte weit entfernt sein sollte, und als Mogens ihm mit klopfendem Herzen folgte, weitete sich der Stollen zu einer großen, unregelmäßig geformten Höhle, in der sich das Licht ihrer Laternen verlor, ohne auf Widerstand zu stoßen.
    »Und jetzt?«, fragte Graves.
    Die Frage galt Miss Preussler, die dicht hinter Mogens aus dem unheimlichen Stollen heraustrat und hörbar erleichtert aufatmete. Dennoch konnte sie Graves’ Frage nur mit einem hilflosen Schulterzucken beantworten und mit einem ebenso irritierten wie angsterfüllten Blick in die Runde. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie zögernd. »Aber ich glaube nicht, dass wir hier entlanggekommen sind. Jedenfalls erinnere ich mich nicht.«
    Graves wirkte ein bisschen verärgert, gab sich aber redliche Mühe, sich nichts davon anmerken zu lassen, hob seine Laterne und streckte vorsichtig die Hand nach einem fast mannshohen Stalagmiten aus, der gute zehn Schritte entfernt in ihrem Licht auftauchte. Seine Finger griffen ins Leere. Graves nickte, als wäre er mit dem, was er gerade erlebte, äußerst zufrieden, ging, auf die gleiche, übervorsichtige Weise wie bisher auch, auf den emporgereckten Zeigefinger aus schwarzem Stein zu und berührte ihn flüchtig. Mogens sah, wie sich seine Lippen lautlos bewegten, als er zurückkam. Vermutlich zählte er seine Schritte.
    »Ich glaube, es ist vorbei«, sagte er. »Hier scheint wieder alles normal zu sein. Aber wir sollten uns trotzdem in Acht nehmen.«
    »Das ist nicht der richtige Weg«, sagte Miss Preussler.
    »Gerade sagten Sie noch, Sie wüssten nicht, ob Sie schon einmal hier waren oder nicht«, sagte Graves.
    »Ich könnte mich bestimmt …«, begann Miss Preussler, wurde diesmal aber sofort und in leicht schärferem Ton von Graves unterbrochen.
    »Miss Preussler, ich bitte Sie!«, sagte er. »Sie haben es selbst

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