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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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umständlich unter seiner Tropenjacke, zog eine an einer dünnen goldenen Kette befestigte Taschenuhr hervor und klappte den Deckel auf. Er gewann noch einige weitere Sekunden, indem er mit zusammengekniffenen Augen – vergeblich – versuchte, in dem schwachen Licht hier drinnen die Stellung der Zeiger zu erkennen. Schließlich klappte er den Deckel mit einem enttäuschten Achselzucken wieder zu und steckte die Uhr ein.
    »Auf ein paar Minuten kommt es sicher nicht an«, sagte er. »Niemand hat etwas davon, wenn wir blindlings losrennen.«
    »Seltsam«, sagte Mogens, »und ich dachte, genau das hätten wir die ganze Zeit über getan.«
    Graves’ Reaktion bestand nur aus einem eisigen Blick – und einer ungeduldig-befehlenden Geste in Toms Richtung. »Mach Licht, Tom.«
    Tom, der erschöpft mit dem Rücken gegen die Wand gesunken war und sichtlich alle Mühe hatte, nicht in die Knie zu brechen, raffte sich zu einem müden Nicken auf und begann ungeschickt an seiner Laterne herumzunesteln. Der Anblick erfüllte Mogens mit einer Mischung aus Ärger und Schrecken. Seit er Tom kennen gelernt hatte, hatte der Junge klaglos und zuverlässig alle Befehle und Anordnungen von Graves ausgeführt, aber nun war mit seinen Kräften sichtlich am Ende.
    »Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte er.
    »Licht zu machen?« Graves nickte. »Durchaus.«
    »Und wenn sie es bemerken?«
    »Die Ghoule?« Graves sah sich demonstrativ um. »Siehst du welche?«
    »Nein«, mischte sich nun auch Miss Preussler ein. »Aber sie könnten uns sehen.«
    Graves schüttelte mit einem verächtlichen Lächeln den Kopf. »Kaum«, sagte er. »Glauben Sie mir, meine Liebe – wenn sie in der Nähe wären, dann würden wir dieses Gespräch jetzt nicht führen.« Er drehte sich wieder zu Tom herum, und sein Tonfall wurde ungeduldiger. »Was ist mit der Lampe?«
    »Sofort, Doktor Graves«, sagte Tom hastig. Er bemühte sich, den Docht in Brand zu setzen, aber seine Bewegungen waren so fahrig, dass er um ein Haar die Lampe umgeworfen hätte. Erst nach dem dritten oder vierten Versuch gelang es ihm. Weißes, nach dem milden grünen Schein, der sie die letzte halbe Stunde begleitet hatte, fast in den Augen schmerzendes Licht erfüllte den Raum und ließ nicht nur Mogens blinzeln.
    Er hörte mehr, als er sah, wie sich Graves von seinem Platz an der Wand löste und auf die andere Seite des Zimmers ging. Mogens versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die ihm die ungewohnte Helligkeit in die Augen getrieben hatte, erreichte damit aber eher das Gegenteil und fuhr sich schließlich mit dem Handrücken übers Gesicht. Es wurde ein wenig besser, aber nicht viel. Selbst nachdem seine Augen hinlänglich Zeit gehabt hatten, sich umzustellen, konnte er immer noch nicht mit der gewohnten Schärfe sehen. Licht und Schatten waren zu scharf voneinander getrennt, und alle Linien schienen zusätzliche, harte Konturen bekommen zu haben, die in den Augen schmerzten. Mogens rieb sich noch einmal mit dem Zeigefinger über die Augen, aber es änderte nichts. Vielleicht lag es auch nicht an seinen Augen, sondern an diesem seltsamen Raum. Der Effekt erinnerte ihn an das unheimliche Erlebnis, das sie oben im Treppenschacht gehabt hatten, nur, dass er nicht so stark war.
    »Nun, Miss Preussler, wo sind jetzt Ihre … Gefangenen?«, fragte Graves. Er stand hoch aufgerichtet vor der gegenüberliegenden Wand und schien interessiert irgendetwas zu betrachten, das Mogens nicht erkennen konnte.
    »Ich … ich bin nicht … sicher«, antwortete Miss Preussler zögernd. Auch sie blinzelte in die ungewohnte Helligkeit, aber der unsichere Ausdruck in ihrem Blick war nicht allein darauf zurückzuführen. »Ich glaube, ich war nicht … in diesem Teil der Stadt.«
    »Vielleicht nicht einmal in dieser Stadt?«, fragte Graves ruhig. Er drehte sich dabei nicht zu ihr herum, sondern besah sich weiter scheinbar interessiert die Wand und hob schließlich sogar die Hand, um behutsam mit den Fingerspitzen über den rauen Stein zu fahren. Bevor Miss Preussler antworten konnte, winkte er Mogens mit der anderen zu sich.
    »Komm, Mogens. Sieh dir das hier an.«
    Mogens löste sich widerwillig von seinen Platz neben der Tür und ging zu ihm. Erst als er sich der Wand bis auf weniger als zwei Schritte genähert hatte, erkannte er, dass sie nicht so roh und unbearbeitet war, wie es bisher den Anschein gehabt hatte. In den zu bizarren Formen erstarrten Steinen waren Linien und Formen eingeritzt, den

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