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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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fragte Graves. Er schüttelte den Kopf. »Im Prinzip ist es genau dasselbe. Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie Mogens. Er wird Ihnen bestätigen, dass so etwas gar nicht so ungewöhnlich ist. Es gibt Tiefseefische, die regelrechte Laternen vor sich hertragen, um Beute damit anzulocken, und zahlreiche Pflanzen, die dasselbe tun, um Insekten anzuziehen, die sie bestäuben. Das hier«, er deutete wahllos auf den nächstbesten mattgrün leuchtenden Flecken, »ist im Grunde nichts anderes. Erstaunlich und bisher sicherlich unbekannt, aber kein Wunder. Und auch kein Teufelswerk.«
    Mogens hatte nicht den Eindruck, dass sich Miss Preussler mit dieser Erklärung wirklich zufrieden gab, aber sie widersprach auch nicht, sondern warf ihm nur einen neuerlichen, Beistand heischenden Blick zu und schien ein wenig verletzt zu sein, als er nicht in der erhofften Form darauf reagierte. Schließlich machte sie eine beinahe schon trotzig wirkende Handbewegung in die Höhle hinab. »Und gleich wollen Sie mir erzählen, dass das dort unten alles Menschenwerk ist.«
    »Keineswegs«, sagte Graves. Er schüttelte traurig den Kopf und schien noch mehr sagen zu wollen, dann aber stockte er und sah Miss Preussler auf eine Art an, die auch Mogens dazu bewog, ihr noch einmal und aufmerksamer ins Gesicht zu blicken.
    Er hatte ganz automatisch angenommen, dass sich ihre Frage auf die monströse Stadt dort unten bezog, aber nun, als er sie aufmerksamer ansah, wurde ihm klar, dass das nicht stimmte. Sie sah zwar in die entsprechende Richtung, aber ihr Blick – und vor allem das Entsetzen, das er darin gewahrte – galt nicht den bizarren Häusern und Ruinen. Vielmehr starrte sie die schräg abfallende Böschung vor ihnen an, die mit Millionen spitzer, heller Steintrümmer übersät war. Und das war der zweite Irrtum, dem Mogens erlegen war.
    Was er für Stein gehalten hatte, waren Knochen. Schädel, Rippen, Becken, Ellen und Speichen, Oberschenkel- und Schienbeinknochen, Hand- und Fußknöchelchen, Wirbel und Jochbeine, Schulterblätter und Kniescheiben.
    Es waren Gebeine. Millionen von menschlichen Gebeinen.

Er hatte der Versuchung widerstanden, seine Taschenuhr zu ziehen und einen Blick darauf zu werfen – was ihm nicht schwer gefallen war, denn Mogens hatte all sein Geschick und all seine Kraft benötigt, um auf dem schrecklichen Untergrund aus nur lose aufeinander liegenden Knochen sein Gleichgewicht zu wahren – aber er schätzte, dass sie eine gute halbe Stunde benötigt hatten, um den Fuß des furchtbaren Knochenberges zu erreichen. Auch dort wurde es nicht wirklich besser. Der Boden war hier zwar nichtmit einer fast meterdicken Schicht aus menschlichen Gebeinen und Knochensplittern übersät, aber der groteske Gletscher war nicht stabil. Selbst unter ihren vorsichtigen Schritten hatten sich immer wieder kleine, grässliche Lawinen aus sich überschlagenden Totenschädeln und hochgewirbelten Armen und Beinen gelöst, die ihnen spöttisch zuzuwinken schienen, und selbst auf einer Entfernung von gut fünfzig Schritt vom Fuß des Hanges entfernt stießen sie überall auf menschliche Überreste. Die meisten davon waren so vermodert und alt, dass man ihre Natur nur noch erahnen konnte – und selbst das nur, wenn man wusste, worum es sich handelte –, aber dieses Erahnen war schon deutlich mehr, als Mogens wollte. Noch vor gar nicht langer Zeit, als sie oben hinter dem Felsspalt gestanden und sich bereit gemacht hatten, hier herunterzuklettern, hatte er sich Sorgen gemacht, ob Miss Preussler dem wachsenden psychischen Druck Stand halten würde. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob er selbst es schaffen würde.
    Mogens war – während seiner Studienzeit, aber auch davor, denn die Faszination für alte Kulturen und untergegangene Reiche hatte ihn von Kindesbeinen an begleitet – in mehr als einem Grab gewesen, und er hatte vermutlich öfter in einen grinsenden Totenschädel geblickt als die meisten der Studenten, die er in den letzten Jahren unterrichtet hatte, in ihren Büchern. Hätte man ihm noch gestern prophezeit, dass ihm beim Anblick eines Grabes die Angst die Kehle zuschnüren würde, hätte er laut darüber gelacht.
    Aber das hier war kein gewöhnliches Grab.
    Mogens fragte sich vergeblich, die Spuren wie vieler Jahrhunderte unter ihren Füßen zu Staub zerfallen waren. Der kleine Friedhof, hinter dem Graves’ Lager lag, war kaum hundert Jahre alt und die Stadt, deren Menschen ihre Toten dort beigesetzt hatten,

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