Anubis - Roman
mit dem Handrücken über das Gesicht. Raureif glitzerte in ihrem Haar, und auch ihre Kleider waren steif gefroren und knisterten bei jeder Bewegung. Aber die Kälte in ihren Augen hatte einen anderen Grund.
»Ich will nicht dorthin«, sagte sie leise. »Dieser Ort … ist die Hölle.«
»Aber ich bitte Sie, meine Liebe«, sagte Graves. »Was Sie sehen, das erschreckt Sie zweifellos. Um offen zu sein, erschreckt es mich ebenso. Aber es ist nichts Böses, bitte glauben Sie mir. Was Sie dort sehen, ist ein Teil einer vollkommen fremden Welt! Sie ist so verschieden von der unseren, dass wir sie nie und nimmer verstehen werden. Nicht einmal unsere Sinne sind imstande, sie wirklich zu erfassen. Es ist ganz natürlich, dass es Ihnen Angst macht. Aber das ist ganz und gar nicht notwendig. Ganz im Gegenteil! Begreifen Sie denn nicht, welches Geschenk uns hier gemacht worden ist? Wir sind vielleicht die ersten Menschen dieser Welt, die das hier sehen dürfen.«
Miss Preussler zweifelte – dem Blick nach zu schließen, mit dem sie ihn maß – ganz eindeutig an seinem Verstand. Sie setzte zu einer Antwort an, schien sich dann im letzten Moment wieder daran zu erinnern, die Kommunikation mit ihm endgültig und unwiderruflich eingestellt zu haben, und wandte sich mit einem zugleich hilflos wie beinahe flehend wirkenden Blick abermals an Mogens.
»Ich kann verstehen, wenn Sie nicht noch einmal dorthin zurückkehren wollen«, sagte er. »Tom und ich können alleine versuchen, die Gefangenen zu finden. Aber Sie müssten uns schon sagen, wo …«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht mitgehe«, unterbrach sie ihn. »Ich habe lediglich gesagt, dass ich es nicht will .«
»Wie rührend«, sagte Graves. »Ehrlich – mir bricht das Herz beim Anblick von so viel Mut und Selbstlosigkeit. Nur, was Tom angeht, muss ich Sie wohl enttäuschen. Ich fürchte, dass ich seine Dienste selbst in Anspruch nehmen muss.«
Mogens verzichtete auf eine Antwort, konnte aber einen raschen, fragenden Blick in Toms Gesicht nicht ganz unterdrücken. Was er sah, verwirrte ihn. Aber es alarmierte ihn auch ein ganz kleines bisschen. Tom stand noch immer wie zur sprichwörtlichen Salzsäule erstarrt da und blickte auf dieunterirdische Stadt hinunter. Auf seinem Gesicht war die gleiche Mischung von fassungslosem Staunen und Entsetzen abzulesen, wie sie auch Mogens empfand, nur dass der Anteil von Entsetzen deutlich größer zu sein schien. Aber da war auch noch mehr. In seinen Augen stand eine grimmige Entschlossenheit geschrieben, die Mogens einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.
»Tom?«, fragte er.
Im allerersten Moment schien es, als würde Tom überhaupt nicht reagieren. Dann fuhr er leicht zusammen, riss seinen Blick von der Ansammlung bizarrer Häuser, Straßen und Gebäude los und verzog die Lippen zu einem dünnen, vollkommen verunglückten Lächeln. »Alles in Ordnung, Professor«, sagte er. »Ich war nur überrascht. Damit … habe ich nicht gerechnet.«
»Das hat wohl keiner von uns«, antwortete Mogens.
»Und dort unten warten sicherlich noch viel mehr und größere Wunder auf uns«, fügte Graves hinzu. »Aber wir werden sie möglicherweise nie zu Gesicht bekommen, wenn wir noch lange hier herumstehen und reden.«
Was nicht unbedingt das Schlechteste wäre, fügte Mogens in Gedanken hinzu. Er wunderte sich allmählich über sich selbst. Ein Teil von ihm befand sich noch immer in einem Zustand schierer Euphorie. Der Forscher, der er die ganze Zeit über immer gewesen war, jubilierte innerlich, und es war ihm vollkommen egal, welches finstere Geheimnis sich unter der Oberfläche des Sichtbaren verbergen mochte und ob er möglicherweise mit dem Leben für diese Entdeckung bezahlen musste. Und dennoch wurde seine Furcht immer stärker. Mit jedem schweren, hämmernden Herzschlag in seiner Brust verstand er besser, was Miss Preussler gerade gemeint hatte. Sie hatten vermutlich gar keine andere Wahl, als dort hinunterzugehen, gleich, aus welchen Gründen – aber er wollte es nicht. Um keinen Preis. Ein immer größer werdender Teil in ihm selbst krümmte sich vor Entsetzen bei der bloßen Vorstellung, nur einen Fuß in diese abscheuliche Stadt zu setzen.
»Aber wo sind all diese … Geschöpfe?«, murmelte Miss Preussler. »Als ich gestern hier unten war, da waren es Hunderte. Wohin sind sie verschwunden?«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Graves. »Wir sollten froh sein, sie nicht zu sehen.« Er sah sich
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