Anubis - Roman
schwache Erdstöße, der letzte kaum mehr als ein Zittern, der allerletzte, schwache Schauder eines überstandenen Fiebers. Aus dem Boden drangen keine Maden mehr, und es regnete auch keine Steine und Felsbrocken von der Decke. Trotzdem atmete nicht nur Mogens erleichtert auf, als sie den von Kälte und Dunkelheit erfüllten Spalt im Felsen erreichten, der sie vorhin hierher geführt hatte. Der Weg war nicht einmal mehr weit gewesen – wenige hundert Schritte, die sie in ebenso wenigen Augenblicken zurückgelegt hatten –, aber auf dem letzten Stück war Graves immer nervöser geworden und hatte allein zweimalseine Taschenuhr herausgezogen, um einen Blick auf das Zifferblatt zu werfen. Möglicherweise wusste er doch mehr über die präzise Dauer der Frist, die noch blieb; vielleicht hatte er auch schlicht und einfach nur Angst. Mogens verzichtete darauf, ihn zu fragen.
Graves trat ohne zu zögern als Erster durch den Spalt und wurde von der darin herrschenden Dunkelheit verschlungen, und ganz wie Mogens erwartet hatte, kostete es Miss Preussler eine Menge an gutem Zureden und besänftigenden Gesten, bis sie auch das Mädchen dazu bewegen konnte, in die schmale Schlucht hineinzutreten, in der mehr als nur Dunkelheit und die Abwesenheit von Wärme auf sie warteten. Schließlich aber überwanden sie auch dieses letzte Hindernis beinahe leichter – und auf jeden Fall schneller –, als er befürchtet hatte, und wenige Augenblicke später erreichten sie das Haus, unter dem der Kanal mit der Barke lag. Mogens hielt vor allem ihre dunkelhaarige Begleiterin aufmerksam im Auge, und auch Tom drehte immer wieder im Gehen den Kopf, um einen Blick zu ihr zurückzuwerfen. Das Mädchen folgte ihnen jetzt gehorsam, aber ihr Verhalten hatte sich nicht geändert, weil sie Vertrauen zu ihnen gefasst oder gar begriffen hatte, dass sie ihr nur helfen wollten. Sie hatte aufgegeben. Spätestens das, was Graves getan hatte, hatte sie so eingeschüchtert, dass sie es nicht mehr wagte, sich zu widersetzen. Aber das musste nicht so bleiben. Besser, er blieb auf der Hut.
Mogens trat als Letzter gebückt durch den niedrigen Eingang, der ihm jetzt mehr denn je wie das aufgerissene Maul eines amorphen Ungeheuers vorkam, richtete sich auf der anderen Seite wieder auf und hob schützend die Hand vor die Augen, während er in das unerwartet grelle weiße Licht blinzelte. Graves und Tom hatten ihre Lampen wieder entzündet, und der Junge war gerade in diesem Augenblick damit beschäftigt, dasselbe auch mit Miss Preusslers Laterne zu tun. Angesichts der gewaltigen Gefahr, in der sie nach wie vor schwebten, hätte Mogens erwartet, dass Graves sofort die Treppe nach unten ansteuern würde, um so schnell wie überhaupt nur möglich auf das Boot zu kommen. Stattdessen jedoch war er wieder an die gegenüberliegende Wand herangetreten und hatte seine Lampe erhoben, um die Zeichen und Bilder darauf zu studieren.
»Was in Gottes Namen tust du da, Jonathan?«, murmelte Mogens. Fast entsetzt deutete er auf die Treppe. »Lass uns gehen! Oder hältst du das für den richtigen Moment, sich antike Wandmalereien anzusehen?«
Graves löste nicht einmal seinen Blick von der Wand. Ganz im Gegenteil hielt er die Lampe noch ein Stück höher und hob nun auch die andere Hand, um mit den Fingerspitzen beinahe zärtlich die Konturen einer Hieroglyphe nachzuzeichnen, die an eine bizarre Mischung aus einem Vogel und etwas ganz und gar Unbekanntem erinnerte. »Du bist ein Dummkopf, Mogens«, sagte er. »Wenn nicht jetzt, wann ist dann der richtige Moment? Wir werden diese Bilder vielleicht niemals wiedersehen. Vielleicht wird sie nie wieder ein Mensch sehen.«
»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie niemals von einem Menschen gesehen worden wären «, erwiderte Mogens.
Nun löste Graves doch seinen Blick von den Wandmalereien, drehte ganz langsam den Kopf und maß ihn mit einem langen, unendlich verächtlichen Blick. »Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte er kühl. »Ich habe dich gerade einen Dummkopf genannt, Mogens, aber das stimmt nicht. Du bist etwas Schlimmeres. Du bist ein Ignorant.«
Mogens schluckte alles herunter, was ihm dazu auf der Zunge lag. Von seinem Standpunkt aus hatte Graves vermutlich sogar Recht – aber was bewies das schon, vom Standpunkt eines Wahnsinnigen aus? Statt Graves die Antwort zukommen zu lassen, die ihm gebührte, deutete er nur ein Schulterzucken an und fragte noch einmal: »Können wir jetzt weitergehen?«
»Nur
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