Anubis - Roman
fassen.
»Das … das ist …«
»Beeindruckend, nicht wahr?«
Mogens’ Herz begann in jähem Entsetzen zu hämmern, als eine der lebensgroßen Gestalten aus ihrer jahrtausendelangen Starre erwachte und mit einem staksigen Schritt von ihrem Podest heruntertrat. Elektrisches Licht brach sich auf riesigen, schimmernden Augen ohne das mindeste menschliche Gefühl, riss furchtbare Krallen aus dem äonenalten Halbdunkel und verlieh den gleitenden Bewegungen der raubtierhaften Gestalt noch zusätzlich etwas Bedrohliches, das weit über die Grenzen des Sichtbaren hinausging.
Dann machte die unheimliche Gestalt einen zweiten Schritt, der sie vollends ins gelbe Licht der Glühbirnen hinausbrachte, und Mogens erkannte seinen Irrtum und unterdrückte im letzten Moment einen keuchenden Schrei. Es warkein jahrtausendealter ägyptischer Dämon, sondern niemand anderes als Doktor Jonathan Graves; er trat auch nicht von einem Steinsockel herunter, sondern aus dem Schatten einer großen Steinstatue heraus, hinter der er bisher unsichtbar gestanden hatte. Statt grässlicher Raubtierkrallen erblickte Mogens die altvertrauten schwarzen Lederhandschuhe, und das gnadenlose Schimmern in seinem Gesicht war das reflektierte Licht, das von den Gläsern einer randlosen Brille zurückgeworfen wurde, die er mit zwei Gummibändern hinter seinen Ohren befestigt hatte. Dennoch war die Erleichterung, die Mogens verspürte, nicht vollkommen. Die Chimäre war wieder zum Menschen geworden, aber sie bewegte sich nicht wie ein Mensch, sondern schien sich vielmehr auf eine unheimliche, schlängelnde Art in die Wirklichkeit zurückzuwinden.
Es war Mercer, der den Bann brach. »Doktor Graves«, sagte er tadelnd. »Ihren ausgeprägten Sinn für dramatische Auftritte in Ehren, aber Sie sollten bedenken, dass es Menschen mit schwachem Herzen gibt!«
Graves lachte; ein meckernder, unangenehmer Laut, der auf unheimliche Weise gebrochen von den bemalten Wänden zurückhallte. »In diesem Falle haben Sie es nicht mehr besonders weit, mein lieber Doktor«, sagte er. »Immerhin ist das hier ja ein Grab.«
Hätte Mogens noch Zweifel gehabt, was die Identität seines Gegenübers anging, spätestens diese Bemerkung hätte sie beseitigt. Aber er hatte sie nicht. Vor ihm stand Jonathan Graves, kein Dämon, der über den Abgrund der Zeiten hinweggeeilt war, um ihn zu verderben.
Nicht, dass er sich dadurch besser gefühlt hätte.
»Jonathan«, sagte er lahm. Es war nicht unbedingt eine eloquente Begrüßung, und dennoch schon fast mehr, als er in diesem Moment hervorbrachte. Mogens hätte seinen eigenen Zustand kaum in Worte fassen können. Er fühlte sich … erschlagen. Der Wissenschaftler in ihm beharrte unbeeindruckt von allem was er sah darauf, dass es einfach unmöglich war, aber seine Augen beharrten auf dem Gegenteil.
»Mogens.« Graves zauberte einen Ausdruck auf sein Gesicht, den Mogens noch vor einer Minute auf der Physiognomie dieses Mannes für einfach nicht denkbar gehalten hätte: nämlich ein ehrliches, durch und durch echtes Lächeln. Ohne Mercer – der nachdenklich die Stirn runzelte und anscheinend vergeblich versuchte, seine Bemerkung richtig einzuordnen – auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, trat er auf den Professor zu und streckte ihm die behandschuhte Rechte entgegen. »Ich freue mich, dass du gekommen bist. Genau genommen habe ich nie daran gezweifelt, aber um ehrlich zu sein, bin ich in den letzten ein, zwei Tagen doch ein wenig nervös geworden. Aber nun bist du ja da.«
VanAndt griff ganz automatisch nach seiner ausgestreckten Hand, und der winzige, noch zu rationalem Denken fähige Teil seines Bewusstseins registrierte fast beiläufig, dass Graves’ Händedruck vollkommen anders war, als er erwartet hatte, nämlich nicht schwammig und von unheimlicher, kribbelnder Bewegung erfüllt – als wäre da unter dem schwarzen Leder seines Handschuhs nicht nur Haut und Muskulatur und Knochen, sondern noch etwas anderes, auf widernatürliche Art lebendig Kriechendes, das beständig und beharrlich versuchte, aus seinem von Menschenhand geschaffenem Gefängnis auszubrechen –, sondern ein ganz normaler, ja, durchaus angenehmer Händedruck, fest und beinahe schon vertrauenerweckend. Selbst in diesem Moment emotionaler und intellektueller Aufgewühltheit begriff Mogens, dass er einfach nicht aus seiner Haut konnte. Etwas in ihm war nicht bereit, Graves auch nur eine solche Kleinigkeit wie einen ganz normalen menschlichen
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