Anubis - Roman
keine Einwände zu haben, also machte er sich auf den Weg und ging mit vorsichtigen Schritten zwischen den wirr durcheinander liegenden Trümmerstücken hindurch.
»Was gibt es denn so Dringendes, dass du mich zu dieser späten Stunde hast rufen lassen?«, fragte er.
»Ich wollte sichergehen, dass wir auch wirklich allein sind«, antwortete Graves. »Jemand hat sich an dem Vorhängeschloss zu schaffen gemacht. Die anderen werden allmählich misstrauisch.«
»Hyams?«
»Vielleicht«, antwortete Graves. »Obwohl ich auch Mercer nicht traue. Er trinkt.«
»Das ist nichts Neues.« Mogens versuchte vergeblich, Graves’ Gestalt genauer zu erkennen, während er sich ihm näherte. Irgendetwas daran irritierte ihn, aber er konnte nicht sagen, was. Und als hätte Graves seine Gedanken gelesen, wich er ein kleines Stück weiter in die Dunkelheit zurück, sodass er ein Schemen mit vage zerfließenden Rändern blieb, auch als Mogens näher kam.
»Was er in seiner Freizeit treibt, geht mich nichts an«, antwortete Graves. »Aber als ich ihn heute Mittag gesprochen habe, hatte er eine Alkoholfahne. Es würde mich nicht wundern, wenn er herumschnüffelt.« Auch mit seiner Stimme stimmte etwas nicht, dachte Mogens. Es war ganz eindeutig Jonathan Graves’ Stimme, aber sie wurde von einem unheimlichen, rasselnden Geräusch begleitet, als bereite es ihm Mühe, zu sprechen, vielleicht sogar zu atmen. Er fragte sich, ob Graves vielleicht krank war.
»Aber deshalb habe ich Tom nicht gebeten, dich zu holen«, fuhr Graves fort. »Wie weit bist du mit deiner Arbeit, Mogens?«
»Ich habe gerade erst angefangen«, sagte Mogens. »Das weißt du doch.«
»Dennoch muss ich dich ein wenig um Eile bitten. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Heute ist bereits der Dreißigste.«
»Und?«
»In wenigen Tagen ist Vollmond«, erinnerte Graves. Er löste sich von seinem Platz und ging mit sonderbar mühevoll anmutenden Schritten auf die Metalltür zu. Mogens fiel auf, wie sorgsam er darauf zu achten schien, dem Licht nicht zu nahe zu kommen, weder dem der elektrischen Glühlampe noch dem seiner Sturmlaterne. »Wenn wir das Tor bis dahin nicht geöffnet haben, müssen wir einen weiteren Monat warten.«
»Aber das ist doch nur eine Theorie«, sagte Mogens. »Und selbst wenn: Du wartest jetzt seit einem Jahr darauf, diesesTor zu öffnen. Welchen Unterschied macht da ein weiterer Monat?«
»Vielleicht keinen«, antwortete Graves. »Vielleicht auch den zwischen Sieg oder Niederlage, Mogens. Zwischen Erfolg und Untergang.«
»Seit wann dieser Hang fürs Melodramatische?«, fragte Mogens.
»Oh, ich meine das durchaus ernst«, antwortete Graves. »Ich bin nicht sicher, wie lange das alles hier noch existiert – zumindest in einer Form, die uns allen zugänglich ist.«
»Wie meinst du das?«, fragte Mogens verwirrt.
»So bitter ernst, wie es sich anhört«, antwortete Graves. Er trat einen Schritt von der gewaltigen grauen Metallplatte zurück, drehte sich dann zu Mogens herum und seufzte, ein tiefer, rasselnder Laut, der Mogens einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. »Erinnerst du dich daran, was Tom dir über den Sumpf erzählt hat, Mogens, und über den Friedhof, der allmählich darin versinkt?«
Mogens nickte.
»Der Friedhof ist nicht das Einzige, was versinkt«, sagte Graves.
Es dauerte einen Moment, bis Mogens begriff, was Graves damit sagen wollte. »Du meinst …«
»Dies alles hier versinkt allmählich in der Erde«, sagte Graves leise. »Hast du dich nie gefragt, warum sich die Schöpfer dieses Tempels die Mühe gemacht haben, ihn so tief in den Boden zu legen? Ich glaube, das war gar nicht der Fall. Diese ganze Anlage war einst oberirdisch, Mogens, vielleicht in einen Fels gemeißelt, vielleicht auch eine Pyramide wie die der Azteken und Inkas. Im Laufe der Millennien ist sie versunken, langsam, aber unerbittlich. Es muss Jahrtausende gedauert haben, doch irgendwann war sie gänzlich versunken, und nicht lange danach haben die Menschen sie vergessen.« Er lachte leise. »Als unsere Vorfahren dann dieses Land besiedelten und den Friedhof anlegten, da ahnten sie nichts von alledem hier. Und wie sollten sie auch?«
»Selbst wenn es so wäre …«, begann Mogens, wurde aber sofort wieder von Graves unterbrochen.
»Es geht schneller, Mogens«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum, aber der Prozess beschleunigt sich. Der Sumpf hat Jahrtausende gebraucht, um diesen Tempel zu verschlingen, und kaum ein Jahrhundert, um sich
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