Anwältin der Engel
einfiel, dass ihr Vater sie immer davor gewarnt hatte, hochnäsig zu sein, fügte rasch hinzu: »Aber wenn ich etwas wüsste, würde ich es Ihnen natürlich gern erzählen.«
»Da ist mein Mädchen«, sagte Andrea in gewollt munterem Ton, als sich die Küchentür öffnete. »Du bist ja überpünktlich, Schätzchen. Ich hoffe, du bist nicht zuschnell gefahren! Eine Frau vom Gericht wartet hier auf dich, um mit dir zu sprechen!«
Bree erhob sich, als Madison hereinkam. Sie war schlank und sportlich und hatte langes rotes Haar, das mit andersfarbigen Strähnchen durchzogen war. Ihr kurzes T-Shirt ließ ihren flachen Bauch frei. In jedem Ohr trug sie drei winzige Ohrringe, auf einen ihrer Fußknöchel war ein kleiner Schmetterling tätowiert. Sie sah ebenso wie all die anderen halbwüchsigen Mädchen aus, die an Samstagnachmittagen in der Oglethorpe Mall herumhingen. Nett und gut erzogen – auf keinen Fall würde sie sich an einem Raubüberfall auf eine achtjährige Pfadfinderin beteiligen.
»Das ist Bree Beaufort, Madison.«
»Freut mich, Ms. Beaufort.« Madison strich sich das Haar zurück, holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setzte sich in einiger Entfernung von ihrer Mutter an den Tisch. »Sind Sie wegen Lin und der Geschichte am Einkaufszentrum hier?«
»Ja, in gewisser Weise schon«, erwiderte Bree. »Ich habe die Aussage gelesen, die Sie der Polizei gegenüber gemacht haben. Sie sagen, dass Lindsey ganz plötzlich angehalten habe und Sie und Hartley Williams keine Zeit mehr gehabt hätten, sie zurückzuhalten.«
Madison presste die Lippen aufeinander und nickte. »Genauso war es. Lin schlägt öfter mal über die Stränge. Keine großen Sachen. Aber so was passiert von Zeit zu Zeit.«
»Dass sie eine Pfadfinderin beraubt?«
Madison schüttelte den Kopf, da sie Brees ironische Frage für bare Münze nahm. »O nein. Aber wenn wirshoppen gehen, sagt sie manchmal Jetzt passt mal auf! , lässt einen Lippenstift in ihrem BH verschwinden und geht aus dem Laden, ohne dafür zu bezahlen. Oder wenn in der Schule eine schwierige Klassenarbeit ansteht, schreibt sie sich vorher immer was aufs Handgelenk, um zu schummeln. Solche Sachen macht sie.«
»Imponiergehabe«, stellte Andrea Bellamy salbungsvoll fest. »Madison hat immer wieder versucht, ihr zu helfen. Madison wird am Pepperdine College Psychologie studieren und möchte Sozialarbeiterin werden. Wie ich ist sie der Ansicht, dass es ihre Pflicht ist, sich um die arme Lindsey zu kümmern. Ich glaube, ihre Mutter und ihr Vater wissen – wussten – Madisons Einfluss sehr zu schätzen.«
Bree biss sich auf die Lippe und kritzelte in ganz kleinen Buchstaben Meine Güte! auf ihren Notizblock. Dann sagte sie: »Kennen Sie Lindsey schon lange?«
»Klar. Schon ewig lange. Ich glaube, seit der achten Klasse.«
»Damals haben wir beschlossen, Madison auf eine Privatschule zu schicken«, warf Andrea ein. »Die staatlichen Schulen taugen doch nichts. Und die Möglichkeiten, die man auf einer Privatschule hat … «
»Mom«, sagte Madison.
»Was denn, Schätzchen?«
»Könnten Ms. Beaufort und ich vielleicht allein miteinander reden?«
»Schätzchen, ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendetwas in deinem Leben gibt, von dem wir nichts wissen dürfen. Du weißt, wie stolz ich auf die Beziehung bin, die zwischen uns beiden … «
»Mom, ich will ja auch gar nicht über Geheimnisse sprechen, die mich betreffen, sondern die Lin betreffen.«
Andrea Bellamys Gesichtsausdruck verriet, dass sie ganz erpicht darauf war, Geheimnisse über Lindsey Chandler zu erfahren. »Nun, wenn du sicher bist … «
»Bin ich. Außerdem muss Ms. Beaufort es dir sagen, wenn sie etwas für mich Nachteiliges herausfindet, nicht wahr? Ich meine, du bist die Mutter, ich bin das Kind, wer hat denn da das Sagen?«
Bree war sich ziemlich sicher, wer hier das Sagen hatte.
»Wenn du sicher bist … «
Madison streckte den Arm aus und tätschelte ihrer Mutter die Hand. »Bin ich. Ich komm dann bald und erzähl dir alles. Hast du heute schon deine Pilates-Übungen gemacht? Dann fang doch mal damit an. Sobald wir hier fertig sind, komm ich zu dir und mach mit.« Sie beobachtete, wie ihre Mutter durch die Schwingtür ins Esszimmer ging. Als Andrea verschwunden war, stand Madison auf, schlich durch die Küche und legte das Ohr an die Tür. Dann stieß sie einen lauten Seufzer aus. »Mom!« Sie lauschte, bis sich ihre Mutter von der Tür entfernt hatte, und kam
Weitere Kostenlose Bücher