Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
eine mystische und sehr düstere Art:
Ausgehend von seinen Studien psychischer Phänomene, die er in den Zwanzigerjahren durchführte, zum Beispiel bezüglich der Tatsache, dass manche Menschen die Fähigkeit haben, ihnen unbekannte Sprachen zu sprechen, gelangte er zu der Ansicht, dass es zwei verschiedene Formen des Selbst gibt, die beide innerhalb des gleichen Körpers existieren. Das eine, das der Welt zugewandt ist und Persönlichkeit genannt wird, ist bestenfalls eine mangelhafte Konstruktion: eine Annäherung an das, was wir geschaffen haben und die aus purer Notwendigkeit existiert, um das Überleben zu sichern. Im Augenblick des Sterbens jedoch oder wenn wir einem Wahn verfallen oder in einem anderen Ausnahmezustand des Bewusstseins, verlassen wir diese Konstruktion. Das geschieht am häufigsten im Schlaf, wenn das andere Selbst zum Vorschein kommt.
Hessen versuchte sein ganzes Leben lang, Methoden zu entwickeln, sich von der Wirklichkeit zu lösen – durch die Beseitigung des bewussten Selbst mit Hilfe von okkulten Ritualen oder durch Hypnose, durch Automatisches Schreiben oder die Malerei. Er interessierte sich für nichts anders mehr, nur für das andere Selbst. Und indem er mit ihm in Verbindung trat, es kennenlernte und sich bemühte, es in seinem hiesigen Leben unter Kontrolle zu bringen, glaubte er, nicht nur eine besondere Wahrnehmung der nachfolgenden Existenz im Innern des Vortex zu erlangen, sondern so etwas Ähnliches wie ein Empfindungsvermögen – oder ein Leben nach dem Tod – , eine besondere Belebung, die es ihm ermöglichen sollte, die Ebene der Vergänglichkeit und das Leben nach dem Tod zu überbrücken, also jene schreckliche Region zu erreichen, die uns sehr nahe ist, aber dennoch verborgen und mit dem bloßen Auge und den fünf Sinnen nicht erforschbar.
Im Nachhinein ist es nicht einfach und logisch zu beschreiben, aber er versuchte, seine Kunst dazu zu nutzen, einen klaren und jähen Blick in dieses »Andere« zu werfen, in jene Welt, die sonst nur in Träumen, während bestimmter euphorischer Zustände oder geistiger Verwirrung wahrgenommen werden kann. Auf das, was tatsächlich innerhalb des Vortex existiert – und was Hessen die Bevölkerung des Vortex nannte. Dies war etwas, das nur durch das »Andere« verstanden werden konnte – in diesem Fall durch seine Kunst.
Verzweiflung, das Gefühl der Dislokation, Bewusstseinsveränderungen, psychische Störungen und Lähmungserscheinungen durch Depressionen: All das waren für Hessen Aspekte des rastlosen, ewigen Vortex und Belege dafür, wie nahe er uns ist und wie er ständig um unser kurzes und belangloses Dasein brandet.
Apryl nahm einen Schluck von ihrem Wein und legte sich anders hin, um den Krampf im Unterarm zu lösen. Stirnrunzelnd wandte sie sich wieder den vorherigen Kapiteln zu, in denen die erhaltenen Zeichnungen beschrieben wurden. Hessens frühe Studien von toten Tieren und deformierten menschlichen Körpern. Sogar als jugendlicher Student an der Slade-Akademie, als er noch Tinte, Stift und Pinsel benutzte, hatte er hingebungsvoll die Köpfe von toten Hasen und das bleiche Grinsen gehäuteter Lämmer und grässliche Beispiele angeborener Leiden als Motiv gewählt:
Aus dieser Periode sind keine klassischen Aktbilder bekannt, obwohl sie eine Pflichtdisziplin an der Slade-Akademie waren. Nur seine akribisch gestalteten Bilder von toten Tieren und deformierten menschlichen Körpern sind erhalten geblieben.
Totgeborene Drillinge, präparierte Gesichter von Menschen, die an Erbkrankheiten zugrunde gingen, und wulstige Schädel, die im Royal College of Surgeons aufbewahrt werden, waren seine liebsten Motive. Aus all diesen grässlichen Beispielen natürlicher Deformation, von denen schon Kinder befallen sind, versuchte er, bestimmte starke Bilder herauszufiltern und nachzuahmen, die beim Betrachter Schrecken und Ekel verursachten. Die plötzliche unangenehme Konfrontation, die Unfähigkeit, den Blick abzuwenden, der gähnende Abgrund, der sich durch die Wahrnehmung derartiger Abartigkeiten auftat: Das war die Reaktion, die er provozieren wollte.
»Es ist wesentlich vielfältiger als die Schönheit«, schrieb Hessen in seiner erfolglosen Zeitschrift. In Verfall, Deformation und Hässlichkeit fand er Hinweise auf das, was seiner Ansicht nach im Vortex existiert.
Indem er seinen obsessiven Zeichnungen von Kadavern und Körperteilen eine ganz besondere Lebendigkeit verlieh, gelang ihm eine Art von Animismus. So als
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