Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
ihr, dass sowohl Mrs. Roth als auch die Shafers sich nicht mit ihr treffen wollten.
»Aber warum nicht? Sie haben sie doch gekannt.«
Stephen zuckte mit den Schultern. »Ich habe ganz freundlich gefragt und erklärt, dass die sehr nette Nichte von Lillian für kurze Zeit aus Amerika herübergekommen ist und dass sie gern mehr über ihre Großtante erfahren würde, die sie leider nie kennengelernt hat. Aber sie haben es abgelehnt. Ein klein wenig verärgert, so kam es mir vor. Also versuchte ich, sie zu überreden. Aber daraufhin ist Betty einfach gegangen.« Stephen schüttelte den Kopf und sah nun noch müder aus als sonst.
Was stimmte bloß nicht mit diesen Leuten? Sprachen alte Leute nicht gern über vergangene Zeiten? Offenbar nicht. Enttäuscht nahm sie ein Taxi nach Bayswater und ging ins Hotel. Nach einer heißen Dusche – der angenehmsten, an die sie sich überhaupt erinnern konnte – machte sie es sich mit dem Buch von Miles Butler auf dem weichen Bett bequem. Und sofort beglückwünschte sie sich zu der Entscheidung, es nicht im Barrington House zu lesen. Hier in dieser Umgebung kam es ihr sicherer vor, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Das Hotel war eine andere Welt, sauber und hell und bequem und modern. Das genaue Gegenteil des Hauses, dem Lillian nicht hatte entkommen können.
»Blicke in den Vortex« war viel besser geschrieben und weniger hysterisch als die Texte auf der Website der Freunde von Hessen. Aber der Autor lieferte nicht mehr biografische Details als jene, die sie schon online gelesen hatte. Die meisten Texte waren Analysen der Bildgestaltung und des Symbolgehalts der hinterlassenen Zeichnungen. Sie konnte den Gedanken des Autors nur mit Mühe folgen und hörte schließlich auf, weil sie sich dumm vorkam. Die Illustrationen aber, die sie im Internet gesehen hatte, waren hier auf teures Glanzpapier gedruckt und umso beängstigender. Sie musste sich dazu zwingen, nicht ständig vom Text zu den unbarmherzigen, anspielungsreichen Visionen dieser wilden, wirren, verängstigten und verlorenen Gestalten in den Bildern zu blicken. Die Zeichnungen, die etwas Farbe hatten, waren am schlimmsten. Wenn sie eine Seite umblätterte, legte sie zunächst ein Taschentuch auf die nachfolgenden Bilder, damit sie sich auf den Text konzentrieren konnte. Dabei erinnerte sie sich an ganze Passagen aus den Tagebüchern ihrer Großtante. Und diese Parallelen waren so verstörend, dass sie ständig aufblicken musste, um sich in dem kleinen gut erleuchteten Zimmer umzuschauen, weil sie fürchtete, jemand könnte dastehen und sie beobachten.
Sie schüttelte dieses Gefühl ab und las das Kapitel über Hessens medizinische Ausbildung und den Aufstand, den ein Tutor in der Slade-Akademie gemacht hatte, weil Hessen Leichen statt lebender Modelle zeichnete. Er habe »kein Interesse an Schönheit« gehabt, wurde bemängelt. Das Barrington House wurde nur kurz erwähnt – es war der Ort, an den er sich nach dem Krieg zurückgezogen hatte.
Seine Gefangenschaft während des Krieges, so vermutete der Autor, hatte Hessen gebrochen und seine Künstlerkarriere vorzeitig beendet: »Hessen war ein begabter und überaus empfindlicher Mensch, der es nicht ertragen konnte, als Verräter hingestellt zu werden und dem die Bedingungen im Gefängnis arg zusetzten.« Es gab nur einen Weg, sich Hessens Persönlichkeit zu nähern, und zwar durch seine Bilder. Und auch das nur, indem man sie von einem psychoanalytischen Standpunkt aus betrachtete.
Sein Leben war ein inneres Leben, und der einzige wahre Eindruck davon, wer er wirklich war und was er erreichen wollte, kann in seinen Kunstwerken gefunden werden.
Aber so etwas wollte sie nicht lesen. Und vielleicht stellte der Autor das ja auch falsch dar. Möglicherweise gab es da noch etwas. Sie hatte das Gefühl, dass ein ganzes Kapitel über das Leben dieses Malers gar nicht aufgeschrieben war: die Jahre in Knightsbridge – eine Geschichte, auf die in Lillians Tagbüchern hingewiesen wurde und die durch Aussagen von noch lebenden Nachbarn belegt werden konnte, wenn sie nur mit ihr reden würden. Vielleicht hatten diese Leute – die Frau namens Betty und das Ehepaar Shafer – die Bilder ja ebenfalls gesehen. Oder Lillian und Reginald hatten von ihnen erzählt. Das war alles nur reine Spekulation, aber was sie wusste, sollte sie vielleicht diesem Autor mitteilen. Auf der Rückseite des Buchs wurde er als Kurator der Tate Gallery bezeichnet. Also wäre es nicht besonders
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