Apfeldiebe
Feuchtigkeit des Flüsschens lag hier unten dick wie ein Wattetuch zwischen den Bäumen. Hatte es in den vergangenen fünfzig Jahren jemals solch wundervolle Momente gegeben? , fragte sich Seiler. Er konnte sich nicht daran erinnern, weder an Tautropfen, in denen tausend winzige Sonnen tanzten, noch an Baumstämme, welche der Morgen dampfen ließ, nicht an diesen Geruch aus Wärme, Leben und Lust. Wieder und wieder blieb er stehen, sah sich um und trug dabei ein Glänzen in den Augen, welches einem Zwanzigjährigen gut gestanden hätte, bei einem Mittsiebziger aber irgendwie nicht so recht passen wollte. Er lächelte den ganzen Weg zwischen beiden Burgen und als er sein Ziel erreichte und sich auf einen Stein setzte, lächelte er weiter. Das Leben war schön.
» Und, siehst du irgendwas?«, fragte er seinen Hund. Seiler selbst sah nichts, abgesehen von einer alten Feuerstelle, die aber konnte mit den gesuchten Kindern nichts zu tun haben. Erste Grashalme wuchsen bereits zwischen verkohltem Holz. Hasso nahm die Ruine für sich in Besitz, nichts, weder das Verhalten des Tieres noch das, was Seiler sehen konnte, deutete darauf hin, dass die Kinder sich hier herumgetrieben hatten. Seiler wollte seine Alibisuche bereits abbrechen und auf direktem Weg zurück nach Wittlekofen gehen, als sein Blick an der Wendeltreppe, die hinauf auf den kleineren der beiden Türme führte, hängen blieb. Er wusste, dass es eigentlich unnötig war, da hinaufzusteigen, fast schon eine kleine Eselei, schließlich konnte er auf den taunassen Stufen ausrutschen und stürzen, aber plötzlich wusste er, dass er da hinaufsteigen musste . Warum? Bestimmt nicht, weil er von da aus irgendetwas zu entdecken hoffte, ganz bestimmt nicht. »Weil wir von da oben das ganze Tal überblicken können. Was meinst du, alter Junge, sollen wir?«
Ohne eine Antwort seines Hundes abzuwarten, ließ Seiler die Rucksäcke zurück und kletterte die Betonstufen hinauf. An einem kleinen Durchlass musste er den Kopf einziehen. Es folgten im ehemaligen Innern des Turmes zwei weitere Treppenabsätze, dann hatte er den höchsten Punkt erreicht, über sich nur noch die Unendlichkeit, zu seinen Füßen schwarze, auf der gegenüberliegenden Seite des Tales mit Feuer übergossene Hänge. Tief unten wand sich die Steina und begrüßte diesen Tag mit aufsteigenden Dunstfetzen, Nebelschwaden, die zwischen den Strahlenfingern dieses Morgens zerbröselten. Seiler beugte sich über das Geländer, spuckte in die Tiefe und genoss die Wärme auf seinem Rücken. Und sollte …
Hassos Bellen riss den Alten aus seinen Morgenträumen.
Seiler sah nach rechts, wo das ehemalige Zentrum der Burg noch weitgehend im Dunkeln lag, von Hasso keine Spur. Sein Bellen, schätzte Seiler, musste irgendwo da hinten aus diesem Gesträuch kommen, welches den zweiten Turm wie ein Halsband umschloss. Hatte das Tier etwas gefunden? Einen Hinweis auf die Kinder vielleicht oder doch wieder nur einen Fuchsbau?
Begleitet von Hassos Kläffen, stieg Seiler die Stufen hinab.
» Wird bestimmt nur eine Maus sein«, sagte er, »oder ein Falkenjunges, das aus dem Nest gefallen ist.«
Max drehte sich, so gut es ging, auf den Rücken. Bellen? Ein Hund? Da im Fels?
Max hatte Timi wach bekommen, nein, nicht durch Flüstern, sondern durch die eine schon Hunderte Male von ihm an dem Kleinen ausprobierte Art, durch Pusten in dessen Ohr. Stück für Stück hatte Max sich an die Kindergruppe herangerobbt, für die wenigen Meter über den Steinboden fast vierzig Minuten gebraucht und sich dabei Knie und Ellenbogen wund gescheuert. Zusätzlich zu den die Gelenke immer enger umklammernden Stricken ergab dies einen Schmerzcocktail, welcher jedes andere Kind zum Stillliegen und Weinen gebracht hätte, nicht aber Max. In seinem Kopf existierte nur noch ein Gedanke, eine alles beschließende Mission: Max fiel die Aufgabe zu, den kleinen Bruder zu retten, trotz allem, was der ihm angetan hatte. Aber retten bedeutete in diesem Fall nicht Sonne oder Elternhaus und erst recht nicht Befreiung aus dem Berg , nein, diese Begriffe verband sein Geist längst nicht mehr mit Rettung. Max musste den Kleinen davor bewahren, eingesponnen und an die Decke gehängt zu werden. Alles konnte Max sich vorstellen, nur nicht, sich in den ersten Stunden seiner bevorstehenden achtbeinigen Existenz von diesem kleinen Bruder zu ernähren. Nein, das durfte nicht sein!
Mitgegangen, mitgefangen, sagte Max’ Mathelehrer in dessen Kopf und vollendete das
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