Apfeldiebe
Timi lächelte bei der Vorstellung eines geflügelten Cockerspaniels. Und freute sich darauf. Die Augen fielen ihm zu und Alex und Max und Kasi verschwanden und ließen den Jungen mit seinem Hund allein. Charlie sollte er heißen, oder, ein Weibchen, Charline . Der Himmel war bestimmt groß genug für einen Hund, so groß, dass sich niemand da oben an den Haaren und dem Bellen störte und auch die Tennisbälle, die Timi für sein Tier werfen wollte, nie in einen fremden Garten flogen. Vielleicht besaßen sogar diese Tennisbälle Flügel, so wie bei Harry Potter? Dann ließen sich die verrücktesten Spiele spielen, dann …
Der Hund in Max’ Kopf besaß keine Flügel und wenn doch, dann hätten diese gebrannt. Und dieser Hund rannte auch keinen geflügelten Tennisbällen hinterher, sondern Kindern, schreienden Kindern, in einem Berg gefangenen Kindern, die er packte und seinem Herrn vor die Füße warf. Max’ Finger bewegten sich völlig von allein und streichelten Timis Stirn. Das Bewusstsein, dass dies jetzt die allerletzten Berührungen mit dem menschlichen Timi sein mussten, zauberte so etwas wie Melancholie in Max’ Denken. Abschied – nie ein schönes Wort. wenn man etwas Geliebtes zurücklässt. Max liebte Timi, so sehr, dass er jetzt tun musste, was kein Junge jemals mit seinem Bruder tun sollte, aber es gab weit und breit keine andere Möglichkeit, Timi zu beschützen. Max lächelte. Er hatte sich immer, vor allem, wenn er hinter seinem Stiefvater in dessen Werkstatt hinabstieg, gefragt, warum er eigentlich auf dieser Welt war. Nur, damit ein anderer seinen Spaß hatte? Damals wie heute schien ihm dies als Begründung für die eigene Existenz zu wenig. Zufall? Pech? Das wollte Max nicht glauben – wie jämmerlich wäre ein Leben, wenn es nur auf diesen beiden Begriffen aufbaute. Max hatte sich immer an seine Aufgabe geklammert und diese Aufgabe lautete: Timi beschützen. Jetzt, als Max ein Stück näher rutschte, um in wenigen Augenblicken so kräftig wie nur möglich drücken zu können, jetzt wusste er, dass dieses Beschützen tatsächlich den Grund für die eigene Existenz darstellte. Timi war da oben, in der richtigen Welt, zu schwach, um auf sich selbst aufpassen zu können und hier unten erst recht. Timi wird überleben , wusste Max und spannte jeden Muskel an, Timi wird, genauso wie sein großer, starker Bruder, ein neues Leben beginnen. Ein besseres Leben.
» Aber da ist doch gar nichts.« Gernot Seiler stand bis zur Hüfte in Brennnesseln und versuchte, einen Blick auf das zu erhaschen, was Hasso so außer Rand und Band brachte. Das Tier scharrte, hatte bereits ein Loch gegraben, in dem sein Kopf bis zur Hälfte verschwand, aber soweit Seiler sehen konnte, hatte der Hund nur ein paar Steine freigelegt. »Komm, Hasso, lass die Mäuse in Ruhe.« Seiler verließ das aus überwuchertem Geröll und Mauerresten bestehende Fleckchen am Hang unterhalb des zweiten Turmes, das Tier aber scharrte weiter, bellte dazu, mal in das von ihm gegrabene Loch hinein, mal zu seinem Herrchen hinüber. Dieses, Rucksäcke und Stock in der Hand, rief noch einmal: »Hasso! Hierher!« Und endlich reagierte das Tier. Es sprang aus den Brennnesseln, statt aber zu seinem Herrchen zu rennen, blieb es am Rand des Gestrüpps stehen und bellte das Herrchen an. »Und was bitteschön soll das jetzt wieder?«, fragte Seiler, erhielt ein weiteres Wau seines Hundes, dann verschwand dieser erneut.
Gernot Seiler kannte seinen Hasso, kannte jeden Blick, jede Stellung seiner Ohren. Und jedes Bellen. Für jemanden, der selbst keinen Hund besaß, klang wahrscheinlich alles ähnlich, Seiler aber konnte jedem Bellen einen Begriff zuordnen. Hasso kannte keine Worte, also musste er alles, was er sagen wollte, in ein Geräusch verpacken, zum Beispiel das herzzerreißende Bellen, wenn im Dorf eine Hündin läufig war und Hasso, statt zu ihr zu rennen, die Nacht eingesperrt neben seinem Herrchen verbringen musste. Oder das wilde Kläffen, wenn ein Fremder dem Grundstück zu nahe kam. Hasso konnte durch Bellen zum Spiel oder Spaziergang auffordern, konnte – wieder mit einem ganz anderen Klang – einer Katze nachjagen. Das, was Seilers Hund jetzt aber von sich gab, konnte der spontan keiner der ihm bekannten Mitteilungen zuordnen. Gut, am ehesten vielleicht der Aufforderung zum Spiel, aber soweit Seiler eben gesehen hatte, gab es in diesem Loch nichts zum Spielen.
Im Vertrauen darauf, dass ihn sein einziger Freund nicht zum Narren halten
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