Apfeldiebe
Timi für seinen Verrat bestrafen.
Dieser letzte Satz, den Max genau so Wort für Wort dachte, gebar einen für Max unglaublichen zweiten Satz: Ließen sich die Spinnen betrügen?
Max wartete nach diesem Gedanken auf eine angemessene Antwort seiner Spinnen, auf das Platzen seiner Hände und Füße, wartete auf ein Spinnenheer, das sich von der Decke abseilte und über den Frevler herfiel. Aber Max’ Freunde konnten keine Gedanken lesen! Sie konnten so unendlich viel, aber seine Gedanken zu entziffern, dazu fehlte ihnen etwas. Max dachte diesen Gedanken ein zweites und ein drittes Mal, ohne dass eine Reaktion der Spinnen erfolgte. Sie bekamen es nicht mit.
Max wollte Timi nicht als Vorrat für wen auch immer enden lassen. Er wollte keinen eingesponnenen Timi, egal was der auch getan hatte. Der Tag würde kommen, an dem der Kleine seine Augen öffnete und sehen konnte, Max würde ihm dabei helfen. Und ihn bis zu diesem Tage beschützen. Und Max wusste auch schon, wie …
» Timi.« Nur ein Flüstern, der Hauch einer Stimme. »Timi.« Max rollte sich ein Stück in die Richtung, aus der er drei Kinder im Schlaf atmen hörte. »Timi, wach auf. Ich weiß, wie wir dich retten können.«
Zur selben Zeit, als Max bei seinem Bruder anlangte und ihm ins Ohr flüsterte, leuchtete im Osten der Himmel über den beiden Ruinen bereits in einem Gemisch aus Violett, Rosa und Blau. Über Gernot Seiler und auch gegenüber, oberhalb der Roggenbacher Ruine, überwogen noch die Farben der Nacht und einige letzte Sternenaugen zwinkerten zu Mann und Hund herab, aber eins nach dem anderen schloss die Nacht diese Augen und in höchstens einer halben Stunde, so Seilers Schätzung als er erwachte, dürften erste Sonnenstrahlen die gegenüberliegenden Hänge in Brand setzen.
Wie schon in der Nacht, pustete der Alte als Erstes in die Glut und legte trockenes Gras und eine Handvoll Zweige nach. Als die Flammen loderten, erleichterte er sich im Wald und aß anschließend den Rest seines Apfels. Anschließend packte er seine Sachen, hielt Hände und Rücken noch einen Moment an die Flammen, dann trat er das Feuer aus.
Von der Ruine Steinegg führte ein schmaler Pfad ziemlich gerade hinunter in die Einkerbung zwischen den beiden Burghügeln, kreuzte da den vom Wanderparkplatz kommenden breiten Hauptweg und wand sich hinauf zur Roggenbacher. Seiler schulterte beide Rucksäcke und nahm seinen Stock. Die Türme der gegenüberliegenden Ruine leuchteten blutrot als er aufbrach, dahinter schwarzer Wald.
» Was meinst du, Hasso, ’ne halbe Stunde? Halbe Stunde, bis wir drüben sind und dann noch zwei zurück ins Dorf?« Danach einen Polizisten suchen, den Rucksack abliefern, seine Geschichte erzählen und anschließend … Seiler freute sich wie ein frisch Verliebter, konnte es kaum erwarten, endlich aufzubrechen. Gut, heute dürfte es nicht mehr reichen, aber morgen um diese Zeit, da würden er und Hasso schon aus dem Dorf sein. Morgen.
Die avisierten dreißig Minuten Fußmarsch hinüber zur Schwesterburg dehnten sich wie ein nagelneuer Gummibund und als Seiler und Hasso endlich zwischen den beiden Türmen der Roggenbacher Ruine auftauchten, lag ein mehr als einstündiger Spaziergang hinter dem Paar. Einerseits behinderte zu Beginn noch Dunkelheit, vor allem aber der kaum als solcher zu identifizierende Pfad schnelleres Vorankommen, andererseits legten weder der alte Mann noch sein Hund besondere Eile an den Tag. Wie dem Alten, hatte auch Hasso die Nacht im Freien gutgetan. Er fühlte sich jung und stark in dem fremden Revier und nahm es ohne Skrupel sofort für sich in Besitz; kaum ein Baumstamm rechts und links ihres Weges blieb von ihm verschont, selbst Grasbüschel oder tief hängende Zweige bedachte er mit ein paar Tropfen Urin. Sollte doch einer kommen und ihm das hier alles streitig machen, sagten aufgerichtete Ohren und Schwanz des Rüden, er konnte es an diesem Morgen mit jedem aufnehmen.
Gernot Seilers Langsamkeit folgte anderen Beweggründen. Zwar blieb auch er zwei Mal stehen und ließ ein paar Tropfen zurück (welche Hasso umgehend mit der eigenen Duftnote übertünchte), aber das war nicht die Ursache für seine Verspätung. Seiler genoss diesen Morgen. Wieder und wieder blieb er stehen und blickte zu den annähernd waagerecht einfallenden Sonnenfingern über seinem Kopf auf. Je weiter er in die Einkerbung zwischen den beiden Burghügeln und damit in den Morgendunst hinabstieg, desto deutlicher erschienen diese Finger, denn die
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