Apfeldiebe
Urteil: mitgehangen .
Über den Köpfen des Brüderpaares bellte bereits ein erster Höllenhund. Es gab keine Zeit mehr zu verschwenden, wusste Max, jeden Augenblick konnten sich die Wände öffnen und Spinnen und Höllenhunde über die Verdammten herfallen. Timi aber durfte nichts geschehen und der einzige Ort, welcher in Max’ Augen Sicherheit versprach, hieß: Brunnen. Warum sonst wohl hatte Kasis Gott sein Engelchen da hinabgeworfen? Spinnen mögen kein Wasser und Höllenhunde, aus Glut und Feuer bestehend, ganz sicher auch nicht. Einzig im Brunnen ließ sich Timi retten und da konnte er auf die gemeinsame Zukunft mit seinem Bruder warten und das Spinnengericht hier oben einfach vorüberziehen lassen.
Max beglückwünschte sich zu dieser Erkenntnis.
Max hatte Timi gefunden und gepustet. Und wie von ihm erhofft, hatte Timi die Augen geöffnet und seinen Bruder erkannt. Ja, dieser allererste Augenblick, welcher dem Schlafe folgte, nur dieser verdiente das Wort Ehrlichkeit . Bereits eine halbe Minute später bestimmten wieder Vor- und Nachteile, alte Kränkungen, Erwartungen und was nicht alles das eigene Denken, in diesem ersten Moment aber existierte nichts als Ehrlichkeit und der Erwachende reagierte ehrlich, wie Timi jetzt. Er hatte sich gefreut und den Bruder in den Arm genommen.
Jetzt saßen die Brüder nebeneinander am Rand des Brunnens. Timi hatte gefragt, ob er die Lampe holen sollte, was Max aber nicht wollte. Die Dunkelheit war sein Verbündeter, verbarg die Öffnung im Boden, die Max jetzt mit den Füßen ertastete und vor der Timi eine Heidenangst haben dürfte. Max wusste, dass er im Lampenschein den Kleinen nie und nimmer an den Rand des Brunnens dirigieren könnte, so aber, der eigenen Sehkraft beraubt, saß er jetzt nur wenige Zentimeter vor der Öffnung, ahnte nichts und genoss trotz allem die Nähe des Bruders.
» Willst du mir die Stricke wirklich nicht abnehmen?«, fragte Max schon zum vierten Mal, erhielt jetzt aber nicht einmal mehr eine Antwort. Beim ersten Mal hatte Timi noch den Kopf geschüttelt und auf Alex verwiesen, beim zweiten Mal nur erklärt, dass er das nicht dürfe und jetzt, jetzt waren ihm wohl sogar diese wenigen Worte zu viel. Und die Höllenhunde kratzten bereits am Fels, wollten Timi, den kleinen Timi und der klammerte sich an Lügen. Ja, wusste Max, das Erwachen zog vorüber und das Denken setzte neu ein und damit die Lüge.
Timi vermutete, dass Max ihn nur wegen dieser Fesseln geweckt hatte. Gut, ein ganz klein wenig vielleicht auch, weil er nicht so allein in seiner Ecke liegen wollte, hauptsächlich aber bestimmt wegen der Stricke, mit denen Alex Max’ Hände und Füße zusammengebunden hatte. Aber die durfte er nicht lösen. Aber er durfte sich hinlegen.
» Soll ich dich streicheln?«, fragte Max.
» So wie Mama?«
» Wenn du willst. Leg dich hin und ich dreh mich um, sodass meine Finger deine Nase berühren.«
» Ich kann mich doch hinter dich legen«, sagte Timi und wollte sich schon erheben.
» Nichts da. Ich rutsche rum«, denn Timi musste zwischen Max und Brunnen bleiben.
Timi legte sich auf die Seite, ein kalter Luftzug stieg aus dem nur wenige Zentimeter entfernten Brunnen auf, legte sich über Timis Arm und hinterließ Gänsehaut. Das Kind aber ordnete dieses Frösteln der ersten Berührung durch Max’ Finger zu. Wie Mutter streichelte Max Timis Kopf, immer an derselben Stelle, zwischen Nase und Haaransatz. Zuerst tat es immer so gut, später, wusste Timi und wartete bereits darauf, später störte es ein ganz klein wenig, tat beinahe weh, so überempfindlich wurde die Haut unter diesen Streicheleinheiten. Aber, als es soweit war, wagte Timi nicht sich zu bewegen, er wollte Max nicht auch noch das Letzte wegnehmen. Er ließ sich weiterstreicheln und mit der Zeit betäubte diese mechanische Fingerbewegung Timis Stirn und jetzt, als in seinem Traum ein Hund bellte, spürte er die eigene Stirn kaum noch. Er wollte sich ausruhen, dem Hund in seinem Kopf lauschen und einschlafen. Vielleicht könnte er von einem Hund träumen, das wäre schön. Timi hatte sich immer schon einen Hund gewünscht, einen, der neben seinem Bett schlafen durfte und der bereits seit Stunden auf ihn im Flur wartete, wenn er aus der Schule kam. Aber Mama wollte nicht, wegen all der Haare und dem ganzen Dreck, den solch ein Tier mache und Papa mochte kein Gekläff im Haus. Gab es im Himmel Hunde? Bekam da jeder, der wollte, einen geschenkt? Und konnten diese dann auch fliegen?
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