Apfeldiebe
Hasso folgte keinem seiner Befehle, ganz im Gegenteil, er tat, als gäbe es kein Herrchen, als existierte keine Gefahr. Er kläffte gegen Timis Schreie an und schaffte es so, dass kein einziges Geräusch aus dem Berg nach draußen drang.
Seiler ging zu seinem Rucksack, nahm die außerhalb des Dorfes sonst nie benutzte Leine und klickte den Karabiner in Hassos Halsband. Anschließend zerrte er das Tier weg von der Gefahr.
» Du Spinner! Was soll das, Hasso?« Hasso bellte weiter Richtung Loch. »Komm jetzt!« Gernot Seiler bückte sich nach den beiden Rucksäcken.
» Hallo?«
Seiler richtete sich auf, lauschte. Wenn doch Hasso wenigstens für eine Sekunde mit seinem Gekläffe aufhören könnte! Kindergeschrei? Wer trieb sich um diese Uhrzeit schon hier herum? Es dürfte höchstens sieben Uhr sein, schätzte er. Seiler beugte sich über die rechts neben ihm aufragende Mauer – aber nichts, der gewundene Pfad von der Steina herauf zur Burg lag menschenleer. Vögel zwitscherten, Hasso bellte – ansonsten nichts.
» Aus, Hasso! Platz!«, befahl er seinem Hund. Der legte sich mit gespitzten Ohren neben Seiler ins Gras, ließ dabei aber seinen Fund keinen Moment aus den Augen.
Seiler kratzte sich am Kopf; das musste er sich eingebildet haben, hier war nichts, von ihm abgesehen kein Mensch weit und breit.
» HALLO!«
Hasso sprang auf und zu seinem Loch hin, riss Seiler die Leine aus der Hand. Der Kopf des Tieres verschwand erneut im Boden und sein Kläffen klang jetzt wieder gedämpft, wie aus einem abgeschlossenen Nachbarraum, und Gernot Seiler wusste, dass er sich nichts eingebildet hatte. Das Rufen musste aus Hassos Loch kommen!
Er zerrte das Tier zur Seite und legte sich auf den Bauch. Er versuchte etwas zu erkennen, aber da unten herrschte eine Finsternis, die jeder Nacht zur Ehre gereicht hätte.
» Ist da jemand?«, rief er in diese Finsternis hinein. »Hallo?«
So schön konnte also Kindergeschrei klingen. Niemals zuvor hatten Seilers alte Ohren etwas Schöneres gehört.
Alex konnte dieses Glück kaum fassen: der Berg hatte sich aufgetan, Sonnenlicht flutete zu den Kindern herab und als sei dieses Glück noch nicht genug, erschien jetzt ein schwarzer Schattenkopf in diesem winzigen Loch da oben! Doch Zeit, sich an diesem Glück zu ergötzen, es zu genießen und als das zu empfinden, was es war – ein Wunder – blieb Alex nicht. Max lag am Brunnen und eine einzige falsche Bewegung konnte ihn in die Tiefe befördern – mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen und Füßen. Alex hechtete nach vorn, packte Max am Arm und zerrte ihn aus der Gefahrenzone. Max schrie, die Schnüre zerrissen die Haut an seinen Gelenken, er schrie, weil er versagt hatte. Doch Alex kümmerte sich weder um Max’ Wunden noch um dessen Versagen; er zog ihn zum Durchgang in den Fässerraum, warf einen Blick auf Kasi und Timi und stürzte auf die Halde. Er fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum wie ein Gestrandeter auf einer einsamen Insel, am Horizont der Luxusliner.
» Hier«, schrie Alex, »wir sind hier!«
» Ich seh nix, mein Junge«, kam es von oben. »Seid ihr die Kinder, die vor einer Woche verschwunden sind?«
» Ja. Und …« Was Alex noch nach oben rief, ging in Timis Schreien unter. Das Kind hielt es nicht mehr hinter Kasi versteckt aus. Alles in den zurückliegenden Tagen Erlebte schoss ihm durch den Kopf: noch einmal sah er Kasi von der Decke baumeln und Max’ Gebissabdruck in dessen Schulter. Ein weiteres Mal stürzte die Decke ein, ragten Rufus’ Beine aus dem Schutt, kämpften die beiden Großen. Und dann dieser Brunnen! Timi wusste, dass der Brunnen ihn haben wollte, zwei Mal bereits – ein drittes Mal durfte es nicht geben. Dort oben winkte die Freiheit. Er konnte nicht mehr länger warten. Das Leben hatte in diesem Augenblick ein zweites Mal begonnen, jetzt wollte er zu diesem Leben. Timi stürzte an Alex vorbei und begann, in den Trichter hineinzuklettern. Nur vier, fünf Meter lagen zwischen ihm und der Öffnung da oben, das konnte er schaffen.
» Nein, Timi, warte!« Doch der Junge hörte nichts mehr. Diesem Loch schenkte er mehr Aufmerksamkeit als der Wand, die er hinaufkletterte, als den kleinen Tritten und Spalten. Er kletterte, schrie dabei, schaffte einen guten Meter, dann rutschte er ab und stürzte neben Alex in den Schutt.
» Alles in Ordnung da unten?«, fragte Seiler.
» Hast du dir wehgetan, Timi?« Der Achtjährige stieß Alex zur Seite, sprang auf die Beine und wollte
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