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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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denn?«
    » Ach«, Alex atmete tief durch. Seine Wangen brannten. Atmen, ganz ruhig atmen . Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nichts weiter. Nichts. Nur Rufus.« Kasi ließ das Brett sinken und kam herüber.
    » Wie sieht er aus?«
    » Keine Ahnung, hab nur eine Hand gesehen. Aber es geht schon, hab bloß gar nicht mehr damit gerechnet. War ganz in Gedanken.« Kasi nickte, er wusste genau, was Alex meinte. Auch er hatte sich in den letzten beiden Stunden immer weiter aus seinem Gefängnis herausgearbeitet und befand sich, als Alex die Hand entdeckt hatte, gerade auf der Terrasse hinter dem Haus, wo er sich in der Sonne aalte. Und neben ihm saßen Mutter und Vater und auf dem Tisch standen Berge von Obst, eine Schüssel mit Klößen, Schnitzel und Apfelmus und und und. Kasi wusste genau, was Alex meinte.
    » Sollen wir?«, fragte er schließlich, obwohl er sich viel lieber hingelegt und geschlafen hätte. Aber wenn sich niemand um Rufus kümmerte, dann würde er hier verwesen. Kasi hatte im Frühjahr im Wald Richtung Wellendingen einmal ein verendetes Reh gefunden: alles voller Fliegen. Und Maden, so dick wie sein kleiner Finger. Vor allem an den Augen, der Nase und dem Maul saßen die Insekten und aus diesen Nasenlöchern und dem Maul des Tieres krochen ihre weißen, dünnen Nachkommen. Den Gestank konnte er jetzt noch riechen. Kasi wollte Rufus’ Körper nicht berühren. Er hatte noch nie zuvor einen toten Menschen gesehen, geschweige denn berührt. Er wollte aber auch nicht, dass dieser Körper hier verweste und zu stinken begann und die Kinder vor dem anstehenden Tod durch Verdursten erstickten. Nein, das wollte er noch viel weniger als Rufus’ (kalten?) Körper zu berühren.
    Alex nickte schließlich. »Ja, etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«
    Dieses Mal stiegen sie gemeinsam auf den Grabhügel. Obwohl Alex’ Reaktion eben Kasi zwar vorbereitet hatte, starrte er doch auf diese Hand, als sei sie ein Ding aus einer fernen Welt, soeben aus dem Nichts vor seine Augen gefallen. Die Hand lag mit der Innenseite nach unten auf dem Schutt und die herabgefallene Decke hatte ihre Spuren auf Rufus’ Rechter eingegraben, die Knöchel dunkel verfärbt und der kleine Finger stand im rechten Winkel zur Seite ab. Kasi überlegte, ob Rufus dieses Kunststück schon zu Lebzeiten beherrscht hatte, fand aber keine Antwort, zu kurz die Zeit, die Rufus in Wittlekofen gelebt hatte, zu wenige Nachmittage, die sie gemeinsam verbracht hatten. Kasi selbst konnte seinen Daumen – allerdings nur den linken – so weit nach hinten biegen, dass dieser den dazu gehörenden Unterarm berührte, aber so etwas wie das hier hatte er noch nie gesehen.
    Alex dachte weder über diesen Finger noch über seine Zusammentreffen mit Rufus nach. Punkt eins hatte er sich bereits beantwortet (gebrochen), Punkt zwei existierte nicht. Abgesehen vom Schulbus oder ein, zwei unbeabsichtigten Begegnungen im Dorf, hatte er mit dem Schwarzen absolut nichts am Hut gehabt. Alex setzte sich neben die Hand in den Schutt und warf Stein für Stein nach unten, Kasi folgte diesem Beispiel auf der anderen Seite.
    Kasi legte Rufus’ Schulter frei, Alex dessen Hüfte und Kasi dachte, dass dieser Tod eigentlich zu Rufus passte. Rufus hatte auf Kasi immer abgehoben oder völlig in den eigenen Gedanken gefangen gewirkt, als lebte er gar nicht dieses Leben hier, sondern ein ganz anderes tief in sich drinnen. Klang vielleicht komisch, aber bessere Worte fielen Kasimir nicht ein.
    » Sein Vater ist jetzt ganz allein?« Alex sah auf, die Hand an der Stelle, wo Rufus’ Kopf liegen musste. Er unterbrach die Arbeit eine Sekunde, dann nickte er. Und machte weiter.
    Ganz allein. Kasi konnte sich nicht vorstellen wie das sein mochte, ganz allein. Er hatte Mutter und Vater und die hatten sich und ihn. Aber, wie Mutter immer sagte, es geht weiter, irgendwie. Bis zum jüngsten Gericht. Die Frage dabei hieß nur: War dieses Jüngste Gericht eine gemeinsame Veranstaltung oder wartete auf jeden Menschen ein ganz eigenes Jüngstes Gericht? Kasi hatte über diesen Punkt schon ebenso viel wie ergebnislos nachgedacht. Niemand wusste eine Antwort auf diese Frage. Mutter sagte nur, dass dies auch gar nicht wichtig sei und dass er das Jüngste Gericht bitte nicht Veranstaltung nennen solle. Wenn jeder so lebte, dass er sich am Abend noch im Spiegel in die Augen schauen konnte und sein letzter Satz, den wer auch immer zu hören bekommen hatte, ein guter Satz gewesen war, dann musste

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