Apfeldiebe
man sich nicht fürchten. Ganz im Gegenteil. Aber Kasi wusste nicht, ob das alles so stimmte. Auf Rufus’ Vater jedenfalls wartete ein Jüngstes Gericht und Rufus selbst hatte es bereits hinter sich.
Während Kasi diesen Gedanken nachhing, befreite Alex beide Beine des Schwarzen, Kasimir selbst Schultern und den größten Teil des Rückens. Nur an den Kopf traute sich bisher noch keiner ran, dieser lag unter kleinen und mittelgroßen Steinen vergraben, als wolle Rufus selbst nicht sehen, was hier mit ihm geschah und wie dieses andere Leben begann. Aber es musste beginnen.
Alex’ Rücken schmerzte. Trotz des schützenden Stoffes sammelte sich mit jedem Luftholen mehr Staub in seiner Nase, wo er zu harten Klumpen verbuk, Klumpen, die ihn zwangen, durch den Mund zu atmen. Aber auch das brachte keine wirkliche Besserung. Die Staubkörnchen legten sich auf Zunge und Zahnfleisch, schwebten in den Rachen und saugten dabei alle Flüssigkeit auf, die sie bekommen konnten. Kasimir erging es nicht besser und je länger beide arbeiteten, desto öfter mussten sie diese Arbeit unterbrechen, den Stoff anheben und ausspucken. Kasimirs Wunde am Oberarm schmerzte und die anfängliche Euphorie, sich aus eigener Kraft befreien zu können, ließ nach, verflog endgültig bei Rufus’ Anblick. Sie verebbte und das Entfernen der Steine von Rufus’ Körper entwickelte sich für die Kinder zu einer Qual, jeder Stein erschien ihnen schwerer als der vorherige und beide dachten sie immer wieder an den Moment, an dem sie ihn umdrehen und nach unten tragen mussten.
Alex nahm den letzten Stein von Rufus’ Rücken. Jetzt nur noch den Kopf befreien. Er zögerte, seine Hand wollte nicht. Dann aber rutschte Alex doch dieses kleine Stück weiter und seine Finger taten ganz automatisch, was getan werden musste. Pechschwarzes Haar tauchte auf. An Rufus’ Hinterkopf klaffte eine gut zehn Zentimeter breite Wunde und trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte Kasimir zwischen Haaren und getrocknetem Blut etwas Weißes in dieser Wunde sehen. Kasi drehte sich weg, schloss die Augen.
» Geht’s?« Er atmete drei Mal tief durch, hustete und nickte. Sein Blick fiel dabei auf die Schatten an der Wand – zwei Scherenschnittmarionetten mit riesigen Köpfen auf einem schwarzen Berg.
» Ja, es geht schon.«
Als Kasimir sich wieder umdrehte, hatte Alex die letzten Steine entfernt. Vor ihnen lag Rufus, schwarz gekleidet, ein Turnschuh fehlte. Rufus der Schweigsame, der Schwarze, der mit Wunden Übersäte. Rufus der Tote.
» Komm rüber«, sagte Alex. »Fass du da an der Hüfte an, ich nehm ihn hier oben.«
Kasi stieg über den Leichnam, seine Rechte schlug ein Kreuz und er kniete sich an die von Alex angewiesene Stelle. Aber die Hände behielt er im Schoß.
» Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte er endlich. »Ich habe noch nie einen, einen …«
» Toten?« Kasi nickte.
»… noch nie einen Toten angefasst. Und das ist doch Rufus.« Rufus!
Warum hatte sie niemand in der Schule auf solch eine Situation vorbereitet? Warum hatte der Pfarrer in der Kirche kein Sterbenswort über so etwas verloren? Jeden Sonntag predigte er, mahnte, erzählte etwas von Liebe, manchmal auch über den Tod, aber bei ihm sah der Tod nie so aus! Und auch Kasis Eltern hatten ihm nie etwas von Leichenflecken und dieser teigigen Blässe berichtet, ja noch nicht einmal, dass man auf dem Bauch liegend sterben konnte und dabei ein kleiner Finger im rechten Winkel abstand. Für Kasi hieß sterben nur Abschied und bei diesem Abschied lag man auf dem Rücken, mit gefalteten Händen, in weißer Spitzenbettwäsche. Und sie sahen genau so aus wie immer, nur dass sie eben schliefen, anders schliefen. Bisher hatte dieser Abschied für den Jungen kaum etwas Abstoßendes verkörpert, denn wenn man seinen Eltern und dem Pfarrer glauben durfte, sahen sich alle Menschen irgendwann im Paradies wieder. Einschlafen und beim nächsten Augenöffnen befand man sich im Himmel. Aber das hier? Musste Rufus jetzt eine ganze Ewigkeit so dort oben herumlaufen?
» Jetzt fass an, du schaffst das.« Kasi sah Alex’ Hände unter Rufus’ Schultern verschwinden. Wenn er das kann …
Kasimir achtete darauf, dass sich Stoff zwischen den eigenen Handflächen und Rufus’ Haut befand, trotzdem musste er die Augen schließen und durch den Mund atmen. Die Leiche roch, nein, sie stank, stank nach Urin und sie fühlte sich selbst durch den Stoff der Hose hindurch komisch an. Während sie auf Alex’ Kommando
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