Apocalyptica
Anwesende hatten vor Ehrfurcht und Verzückung beinahe das Atmen vergessen. Jetzt empfand das Oberhaupt der Samaeliten bei seinem Erscheinen vor dieser ähnlich bedeutenden Versammlung nichts von alldem. Zwar war er nach wie vor wie ein Engel gekleidet, und die Zeichen des Herrn auf seiner Haut ließen auch den letzten Zweifler verstummen, was seinen Rang und seine Position anbelangte. Dennoch fühlte er sich fehl am Platz und hatte den Eindruck, nicht wirklich ernst genommen zu werden. Der schwere, blutrote Umhang, den er trug, um die schrecklichen Narben, wo einst seine Flügel gewesen waren, zu verbergen, erinnerte den Engel an die Zeit, als er hoch in die Lüfte aufsteigen konnte und einfach frei war. Auch das Gewicht der Schleppe, die er hinter sich herzog, war beträchtlich. Aber es war dennoch nicht dasselbe Gefühl und konnte ihn nicht trösten. Er hatte lange mit sich gehadert, ob er den Verlust seiner Schwingen offen hätte zur Schau stellen sollen, um zu zeigen, wer er war und was das System aus ihm und mit ihm gemacht hatte. Er hätte seine Narben als offenen Vorwurf an die Machthaber der Angelitischen Kirche vor sich her tragen können, doch er war noch nicht soweit. Zu tief saß der Dorn in seinem Fleisch. Er fühlte sich wie ein Stier, dem man die Hörner abgetrennt, wie ein Soldat, dem man sein Schwert genommen, oder ein Mann, den man seiner Männlichkeit beraubt hatte. Doch er wollte ihr Mitgefühl nicht. Er schämte sich, aber er wollte nicht, dass sie etwas davon erfuhren. Die Verantwortlichen sollten keine Genugtuung empfinden. Die Töchter und Söhne Gabriels waren der fleischgewordene Zorn des Herrn, er, Midael, Sohn Samaels, wollte seine Wahrhaftigkeit sein.
Konsistorialkardinal Johannes zu Gemmingen hatte Mühe, den aufgeregten Mob, der sich bereits vor Eröffnung der Sitzung gebildet hatte und der durcheinander schnatterte wie ein Haufen aufgescheuchter Gänse, zu beruhigen. Doch nach einigen Rufen zur Ordnung und mit Unterstützung der Ratsgarde kehrte langsam Ruhe in dem riesigen Rund ein, das aus einer Reihe von nach unten steil abfallenden Stufen bestand und an ein großes, prunkvolles Theater erinnerte. Sehr zu Midaels Verwunderung war der Platz im Zentrum der Halle keineswegs leer, wie er erwartet hatte, sondern Seine Heiligkeit selbst hatte auf dem schlichten Thronsessel aus weißem Marmor Platz genommen. Er war dem Pontifex Maximus schon einmal so nah gewesen, damals, als er feierlich Einzug in Roma Æterna gehalten hatte, doch auch dieses Mal war der Anblick und die Ausstrahlung des lebendigen Vertreters Gottes auf Erden einfach überwältigend. Midael bemerkte, dass er als einziger noch stand und seine Heiligkeit anstarrte, während zu Gemmingen, der neben dem Thron Petrus Secundus ’ stand und sich mit einer Hand an der hohen Lehne abstützte, ihn erwartungsvoll anlächelte. Es war kein freundliches Lächeln, und zu Gemmingens Geste mit der Hand am Thron Seiner Heiligkeit war keinesfalls zufällig gewählt, sondern sollte die Macht des obersten Konsistorialkardinals unterstreichen. Es war ein Affront, und jeder, der in die strikten Rituale und Abläufe angelitischer Etikette eingeweiht war, wusste das. Doch niemand wagte es, zu Gemmingen zurechtzuweisen oder auch nur die Nase zu rümpfen. Der Kardinal, dessen Züge im Laufe seiner langen Amtszeit nichts von der Entschlossenheit und Schärfe eines Mannes eingebüßt hatten, der es gewohnt war zu befehlen, war die Verkörperung der Macht der Angelitischen Kirche, und selbst der Pontifex Maximus wirkte in seiner Gegenwart beinahe zerbrechlich und klein. Er erfüllte die gewaltige Halle, deren Säulen sich zu schwindelerregenden Höhen hinaufschraubten, um ein Dach zu tragen, wie es nur Titanen einer längst vergangenen Zeit hatten dort hinaufbringen können, mit seiner Präsenz. Das Oberhaupt des Ordens der Samaeliten konnte nicht anders, als zu Gemmingen Respekt zu zollen. Er bewegte sich auf seinem Terrain in seiner Stadt zu seinen Bedingungen. In diesen Hallen hatte Midael keine Trümpfe in der Hand, wenn es hart auf hart kam. Es wusste, dass dieses Zusammentreffen enden würde, wie zu Gemmingen es sich zurechtgelegt hatte. Daran würden weder er noch Seine Heiligkeit etwas ändern.
Riesige Banner der Engelsorden, die irgendwo hoch oben an unsichtbaren Befestigungen aufgehängt waren, rahmten das Auditorium ein und bildeten einen warmen Kontrast zum sonst blendend weißen Stein des Domes. Midael fiel auf, dass das Banner der
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